Handwerk Handwerk: Zerbrechliche Schätze
Halle (Saale)/MZ. - Er könnte doch in Zukunft zum Weihnachtsgottesdienst nur noch Kirchen aufsuchen, deren Fenster er selbst rekonstruiert oder geschaffen hat. Er käme dabei in Gotteshäuser von Namibia bis Wladiwostok und er müsste sehr, sehr alt werden, um wirklich alle noch einmal zu sehen. Der umtriebige Glasermeister Lutz Gärlich aus Naumburg würde diesen Vorschlag vermutlich ziemlich amüsant finden, dann jedoch recht ernst werden. Er sitzt heute zum Gottesdienst im Naumburger Dom - wie nicht nur zum Weihnachtsfest - und er wird nicht auf seine Arbeit schauen. Der Meister ist bescheiden. Erstens folgt er dem Gottesdienst und zweitens, gibt er zu bedenken, ist es dunkel. Deshalb sind die Fenster, die unter seinen Händen wieder oder ganz neu entstanden sind, zwar von außen gut zu sehen, von innen aber nicht. Wenn er sich jedoch dem Dom nähert und die erleuchteten bunten Scheiben von weitem sieht, "dann tue ich das schon mit Wohlwollen", gibt er schließlich doch zu.
Würde der 66-jährige Kunstglasermeister erzählen, wie er zu seinem Beruf kam, könnte er mühelos einen langen Abend füllen. Er stammt aus einer Glaserfamilie in Leipzig. Da war nach der 8. Klasse Schluss mit Schule und sozusagen glasklar: Der Junge wird Glaser. Lutz Gärlich aber wurde noch viel mehr. Er absolvierte die Lehre als Rahmenglaser und lernte Fenster bauen, gleichzeitig baute er den Abschluss der 10. Klasse. Und belegte zahlreiche Volkshochschulkurse von Architektur und Baugeschichte bis Zeichnen.
Schon von Kindesbeinen an liebte er das Basteln. Die elterliche Industrieglaserei mit genormten Fertigungen reizte ihn deshalb nicht sonderlich, also ging er nach den vielen Abschlüssen in eine Weimarer Kunstglaserei, wurde Kunstglaser und Glasmaler, nebenbei auch noch technischer Zeichner. Nur wenig später hielt er seinen Gesellenbrief und - fast möchte man sagen natürlich - auch seinen Meisterbrief in den Händen. Mit 22 Jahren. Klebearbeiten bei Bleiverglasungen - das hatten auch Gärlichs Prüfer noch nie gesehen.
Noch am Abend der Meisterfeier war von der möglichen Übernahme einer Naumburger Werkstatt die Rede. Lutz Gärlich stand am nächsten Morgen um sieben Uhr auf der Matte. "Glück ist auch Charaktersache", sagt er, "wenn sich Türen öffnen, muss man auch reingehen." Er wollte die Naumburger Werkstatt, die er als Spitzweg-Idyll im Hinterhof beschreibt.
Was er im Laufe der Zeit über die Naumburger Tradition der Kunst- und Bleiglaserei herausfand, das wäre der Stoff für den nächsten langen Abend. Über mehr als 150 Jahre Geschichte wäre zu berichten, über Werkstätten und Meister, die ihr Wissen und ihre Kunstfertigkeit perfektionierten, und deren Spuren Lutz Gärlich und seine Tochter Martina heute folgen. Der Meister schwärmt von alten Gläsern und Farben, erzählt, wie er in der alten Werkstatt mit seinem 78-jährigen Vorgänger im Glaslager stöberte und eine original verpackte Kiste mit wundervollem grünen Glas aus dem Jahr 1922 fand. Ein Schatz zu DDR-Zeiten und sein Lieblingsglas bis heute.
In der Werkstatt fand sich auch ein alter Bleizug aus dem Jahr 1833. Bis heute können mit dieser Maschine historische Bleiprofile hergestellt werden. 17 Lehrlinge und fünf Meisterschüler haben das inzwischen bei Lutz Gärlich gelernt. Die Werkstatt aber musste um- und aus- und neugebaut werden und so zog der Handwerker an den Spechsart, wo sich bis heute der Firmensitz von Domglas Naumburg befindet. Er war übrigens der erste Meister der Saalestadt, der seinerzeit einen Neubau auf die Beine gestellt hatte.
Die längste Geschichte kann Lutz Gärlich erzählen, kommt er auf seine Arbeit zu sprechen. Drei Leute waren sie zu DDR-Zeiten, Arbeit schoben sie stets für Jahre vor sich her. Das Material - Farbglas, Blei und Zinn - wurde zugewiesen, knapp war es immer. Doch irgendwie fand sich auch immer ein Weg. Jahrelang war der Christ Gärlich auf Kirchenbaustellen in Mecklenburg zu Hause, beschäftigte sich mit Rekonstruktionen und Neubauten. Aber der kleine Handwerksbetrieb aus Naumburg konnte mehr. Er stattete Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser, Interhotels, den Friedrichstadt-Palast Berlin, das Kloster Werningshausen und zahlreiche DDR-Kulturhäuser mit Glasarbeiten und Glaskunst aus. "Manches davon ging nach der Wende den Bach herunter", berichtet Gärlich lakonisch und doch ist zu spüren: Das ärgert ihn. Dann wenigstens eine Zweitverwertung wie die Fenster, von denen er erfuhr, dass sie jetzt ein ganz spezielles Haus in Frankreich schmücken.
Ein Projekt liegt dem Glasermeister, der übrigens sogar mit einem Kunstpreis für seine Arbeit geehrt wurde, besonders am Herzen: "Die Restaurierung der historisch wertvollen Glasmalereien im Gotischen Haus des Wörlitzer Parks." Das, bekennt er, ist sein Lieblingsobjekt. Auch, weil die seit 1978 laufenden Arbeiten kompliziert und langwierig sind. Das war auch so bei den Fenstern des Berliner Doms, die ebenso durch seine Hände gingen, und von deren besonderer Technik er schwärmt.
Und noch eine lange Geschichte könnte er erzählen: von der Zeit nach der Wende. "Was sollte mir passieren? Ich war seit über 20 Jahren selbstständig", sagt er. Eine Manufaktur sollte die Firma Domglas nicht werden, auf qualitätvolle Einzelstücke legt er jedoch höchsten Wert, "Qualität, die zum Glück noch akzeptiert und gefordert wird". Darin sieht er zugleich eine solide Basis für die Zukunft. Um die ist ihm nicht bange, sitzt doch im Büro schon seit vielen Jahren Tochter Martina. Die 40-Jährige ist Bleiglaserin, Glasmalermeisterin und Betriebswirtin. Sie nennt den Vater "Chef" und obwohl er die Geschäfte schon in ihre Hände gelegt hat, rutscht ihm hin und wieder "Kollegin" heraus. Doch meist sagt er schon "Chefin".
Sie sind ein gutes Gespann, das prägt die Atmosphäre der Firma. Und das müssen sie auch sein, denn mit ihren vier Mitarbeitern liefern sie nach wie vor nicht nur Handwerk, sondern Handwerkskunst. Die von Neo Rauch gestalteten Fenster für den Naumburger Dom beispielsweise. Oder die für die hallesche Ulrichskirche, die zur Zeit gerade rekonstruiert werden. Oder die Glasmalerei des Heiligen Sebastian von Tochter Martina, die sie persönlich in Puerto Rico ablieferte - der Auftraggeber hatte die Gärlichs in ihrem Laden am Dom entdeckt. Und dann gibt es da auch noch die Kirchenfenster für Wladiwostok. Die hat Lutz Gärlich selbst im Koffer mit der Transsibirischen Eisenbahn 11 000 Kilometer weit dorthin gebracht. Die Pauluskirche im fernen Sibirien ist ein deutsches Denkmal und wird von einem deutschen Pastor betreut, daher ergab sich der Kontakt. Die russische Sprache übrigens gehört zu den wenigen Dingen, die Lutz Gärlich nicht beherrscht.
Sollte der Meister heute einen langen Abend haben, denkt er sicher nicht an all diese Geschichten. Sondern er sitzt eher im höchsten Zimmer seines Werkstatt-Wohnhauses. Dort, in der "Kemenate", kann er durch die Glasfront weit in die stille Landschaft bis Freyburg schauen. Im warmem Lichtschimmer seines Lieblingsstücks, einer Lampe aus selbstgeschmolzenem Glas, aus "Domglas".