Günther Rühle Günther Rühle: Deutsche Theatergeschichte spannend geschrieben

Berlin/dpa. - Ein Glücksfall deutscher Theater-Geschichtsschreibung ist anzuzeigen: Mit seinem 1280 Seitenumfassenden Band «Theater in Deutschland 1887 bis 1945» hat GüntherRühle nicht nur ein neues Standardwerk geschaffen, sondern auch eineungemein lebendig geschriebene und daher spannend zu lesende«ruhmvolle und lehrreiche Geschichte» des deutschen Theaterlebens vomKaiserreich bis zum Untergang im Inferno der Hitlerdiktatur und desZweiten Weltkrieges vorgelegt.
Das besondere daran ist vor allem, mit welcher Bildhaftigkeit esdem früheren Theaterkritiker und zeitweiligen Intendanten(Frankfurter Schauspiel) gelingt, die Karrieren von Theaterlegendenwie Otto Brahm, Max Reinhardt, Jürgen Fehling oder Gustaf Gründgens,Werner Krauß und Heinrich George oder sogar noch einmal Detailsbedeutender Inszenierungen in Erinnerung zu rufen. Rühle erzähltdabei von Rebellionen, Kämpfen, Niederlagen und Triumphen,Entdeckungen und politischen Beanspruchungen des Theaters.
Das Buch ist der gelungene Versuch, die Arbeit der deutschenTheater vom Erscheinen Henrik Ibsens bis zur Mitte des 20.Jahrhunderts darzustellen. Dabei spart Rühle (Jahrgang 1924) auchseinen eigenen Berufsstand nicht aus, Kritikergrößen derVergangenheit wie Alfred Kerr und Herbert Ihering kommen ausführlichzu Wort, zum Beispiel in ihren unterschiedlichen Bewertungen einesjungen, noch wenig bekannten Dramatikertalents Bertholt Brecht. Dabeispiegeln sich auch die grundsätzlichen Auffassungen über die Rolledes Theaters in der Gesellschaft, vom Naturalismus bis zum«politischen Theater».
Wobei Rühle wohl auch aus dem Abstand der eigenen Jahre die Arbeitdes Theaterkritikers leise relativiert, wenn er über das Theaterschreibt: «Abend für Abend zeigt es die Ergebnisse seiner oftmühsamen Arbeit, deren Bedeutung für den Augenblick und für diefolgende Zukunft oft nicht gleich erkennbar sind.» Und ein Insiderdes Theaterbetriebs spricht aus der nüchtern-illusionslosenFeststellung: «Das Theater kennt auch in sich selbst die Kämpfe, diees auf der Bühne abbildet und schafft Sieger und Verletzte. SogarTote.»
Rühle spürt immer wieder den Zusammenhängen zwischen derkünstlerischen Arbeit und der Politik, dem Zeitgeist undgesellschaftlichen Kräften nach, wie er im Vorwort betont. Der Bogenspannt sich dabei von Kaiser Wilhelms Hass auf Gerhart Hauptmann unddessen «Arme-Leute-Stücken» bis zum «Tanz auf dem Vulkan» einesGustaf Gründgens in der Nazi-Diktatur, die selbst eine einzigeriesige Inszenierung war. Carl Zuckmayer hat mit seinem Stück «DesTeufels General» nach Meinung Rühles, zumal als Ausgestoßener desRegimes, «das lebendigste und wahrhafteste Bild des Staates, der ihnnicht wollte», gegeben.
Insgesamt resümiert Rühle einen erstaunlichenSelbstbehauptungswillen des Theaters unter allen Zeitläuften: «DerStaat konnte das Theater nie ganz vereinnahmen.» Das sollte sich auchzeigen, als es nach 1945 in einem Teil Deutschlands wieder in denDienst genommen werden sollte. «Eine mächtige Kraft, die man nichtmissbrauchen kann», wie Rühle meint, war es aber wohl doch nichtimmer und unter allen Umständen. Und dass die Theater in Deutschlandnie so sehr in die politischen Auseinandersetzungen gezogen wordenseien wie in den 1920er Jahren, scheint angesichts der auch für dieTheater stürmischen «68er Jahre», die immerhin Regisseure wie ClausPeymann, Peter Stein und Peter Zadek zur Entfaltung brachten,fraglich.
Einen besonderen Stellenwert räumt Rühle dem Theatermagier MaxReinhardt ein, dem «Fürst unter allen, die einst von Berlin und Wienaus das Theater in Europa inspirierten», der von manchen Zeitgenossensogar «der berühmteste Theatermann der Welt» genannt wurde. Dabeiwird heute oft vergessen, dass Reinhardt zu der schon seinerzeitaussterbenden Spezies von Privattheaterdirektoren gehörte, die sichals Vorkämpfer für ein Theater ohne Subventionen verstanden, was sichaber schon damals als Illusion erwies. Reinhardt selbst kapitulierte(noch vor dem Machtantritt der Nazis) vor den wirtschaftlichenSchwierigkeiten.
Günther Rühle: Theater in Deutschland 1887 bis 1945Seine Ereignisse - seine MenschenS. Fischer Verlag, Frankfurt am Main,1280 S., Euro 39,90ISBN 13: 978-3-10-068508-7