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Günther Grass erzählt «Im Krebsgang» Günther Grass erzählt «Im Krebsgang»: Es war einmal und hört nie auf (Teil 3)

04.02.2002, 16:33

Halle/MZ. - Alle historischen Figuren, die Grass rekonstruiert, finden ihr Heil in der ideologischen Umwidmung einer politischen Tat, die sich aus persönlichem Versagen speist. "Helden" sind arme Kerle,zeigt Grass, von Gustloff bis Konrad Pokriefke, der - nachdem er im Knast vom Gustloff-Kult abgeschworen hatte - im Netz als Idol einer "kameradschaft konrad pokriefke" aufersteht. "Das hört nicht auf. Nie hört das auf" lautendie schwer geseufzten Schluss-Sätze des Buches.

Viel also will Grass seinen Lesern mit auf den Denkweg geben, zuviel aber, um das Geschehen frei von bizarren und stereotypen Verknappungen auf nur 216 Seiten präsentieren zu können.Die epischen Zwischenräume fehlen, der federnde Atem, Heiterkeit auch, die bislang so gern artifiziell poetisierende Rhetorik. Westpreußische Dialekt-Folklore ("daß main Sohn aines Tages mecht Zeugnis ablegen") steht da neben dürren, Feature-knappen Sätzen. Grass gestattet sich kaum ein Verweilen, greift, was er braucht, oft auf die Schnelle. Die Konstellation "Autor" und Erzähler bleibt äußerlich, ist ein preiswertes Mittel zum effektvollen Text. Noch einmal klopft Grass seine Themen ab: Danzig, Deutschland, die NS-Katastrophe, die breit gepinselte äußereGeschichte, die sich bei ihm gern vor die Darstellung innerer Verfasstheit schiebt.

"Vielleicht", sagte Grass einmal in seltener autobiografischer Offenheit, "haben mich die Schuldprobleme daran gehindert, so eindringlich wie Max Frisch über Identitätsprobleme nachzudenken." "Im Krebsgang" steuert er - allem lexikalischen Barock von Namen und Daten zum Trotz - erstmals auf diese Fehlstellen zu. Nicht zufällig warnt der "Autor" den Erzähler vorm Deuten fremder Seelen: Hat doch keinen Sinn! Wir kennen aber, was dem Erzähler dämmert, kaum bessere Wegeder Welterkenntnis.

So lässt Grass deuten: Der literarische Übervater erkennt die Vaterlosigkeit als Grund allen Übels. Den Erzähler trifft es das psychoanalytischeHämmerchen: als Vater ein Versager (so dass sich Sohn Konrad den Ersatzvater "Gustloff" bastelt), als dienstfertiger Journalist ohnehin der Idiot der gesellschaftspolitischen Stunde. Man liest das alles, manchmal mit Grass-nostalgischer Rührung, merkt aber bald, dass man weniger über die Welt als über Grassens Weltbild erfährt - intellektuell und dramaturgisch spannungsarm.

Nicht mehr die Schnecke, der Fortschritts-Schleicher, nicht die Ratte, der Alarmmelder, sind die Wappentiere des Günter Grass, sondern der Krebs, der die Geschichten nicht mehr nach vorne, sondern zurück nach Innen auffächert. Keiner schulmeisternden, sondern einer weichen, sich selbst läuternden Aufklärung arbeitet das zu - irgendwann, irgendwo. Ein Bilanz- und auch Abschiedsbuch liegt vor, leicht zu lesen, aber wie lange zu beschauen? Ein Selbstporträt des Dichters als schürfender schlurfenderKrebs: Die Augen sind müde, die Schaufeln klappern.

Günter Grass: "Im Krebsgang. Eine Novelle", Steidl Verlag, Göttingen, 216 Seiten, 18 .