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Günter Grass Günter Grass: "Nu is futsch un vorbai"

Von Christian Eger 28.08.2015, 06:45
„Allein mit Wörtern“: Günter Grass 2012 in seinem Garten in Behlendorf bei Lübeck
„Allein mit Wörtern“: Günter Grass 2012 in seinem Garten in Behlendorf bei Lübeck Dpa/ Marcus Brandt Lizenz

Halle (Saale) - Das schönste Gedicht steht auf der letzten Seite. Es ist das Gedicht, das dem heute erscheinenden Buch seinen Titel gibt: „Vonne Endlichkait“. Eine Zeile in ostpreußischer Mundart, die dem gebürtigen Westpreußen Günter Grass immer die liebste war. Eine Sprache, schreibt er, „die mich von jung an gewärmt hatte, deren Reste ich retten wollte, vergeblich.“

Das Gedicht spricht so, wie eine Mutter ihrem Kind zuredet, das nicht aufhören will zu spielen, zu singen oder sonstwie tätig zu sein. „Nu war schon jewäsen“, beginnt der kleine Abendtrost, der neun Zeilen zählt, reimlos. „Nu hat sech jenuch jehabt. / Nu is futsch un vorbai. / Nu riehrt sech nuscht nech. / Nu will kain Furz nech. / Nu mecht kain Ärger mähr / un baldich bässer / un nuscht nech ibrich / un ieberall Endlichkait sain.“

Endlichkeit, ostpreußisch gesprochen. Das ist das letzte Wort des letzten von Günter Grass selbst auf den Weg gebrachten Buches. Das letzte Wort seines großen literarischen und bildnerischen Werkes. Und es ist mehr als ein Wort, nämlich ein Statement. Endlichkeit heißt ausdrücklich nicht: Ewigkeit. Mit dem einzelnen Menschen verschwindet eine ganze Welt.

Wo er selbst nicht ist, kann für Grass, der früh dem Herz-Jesu-Katholizismus seiner Danziger Kindheit verloren ging, nichts mehr sein. Wer spricht da im Gedicht? Es ist kein Gott. Vielleicht eine Frau. Wahrscheinlich ist es der Künstler selbst. Und der sagt: „Nu is futsch un vorbai.“ Aber eine Zugabe gibt es noch.

Insgesamt 96 Prosa- und Versstücke bietet der mit Bleistiftzeichnungen reich bebilderte Band, mit dem Grass, der im April im Alter von 87 Jahren in Lübeck gestorben ist, sich bei seinem eigenen Verschwinden zusieht.

Verlust seiner Kräfte

Er beschreibt den Verlust seiner Kräfte, das Aussetzen von Geruch und Geschmack, das Einschnurren seiner Lebenswelt, die immer enger und leiser wird. Aus der nur noch mitgeteilt werden kann, was unmittelbar vor die Augen, Ohren, Hände gerät: die Schreibmaschine, die Grass nicht mehr bedient, der Radiergummi, den er sucht, der letzte Zahn, der sich löst, der Ruf des Kuckucks, den er nicht mehr zählt.

Dazu die Nachrichten im Fernsehen, die Träume. Das Unmittelbare also, das Naheliegende, auch die erstbeste politische Meinung. Griechenland, Deutschland, der Fremdenhass. Alles taucht auf. Sogar Angela Merkel führt der Literaturnobelpreisträger noch auf die letzten Meter in sein Werk ein, allerdings ohne sie namentlich zu nennen. „Mutti“ heißt das Gedicht. Und Mutti ist die, „die heute mürrisch blickt / und morgen gütig lächelt, / den Trug beschwichtigt, der uns lammfromm macht.“ Dem Zwang, sich zur Tagespolitik äußern zu müssen, unterlag Grass offenbar seit seiner Ankunft im Westen Deutschlands. „Waas mecht nu los sein inne Polletik?“, soll der alte Herr Kurbjuhn, ein Heimatvertriebener wie Grass, den jungen Mann täglich gefragt haben.

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Die Rede von der Endlichkeit ist bei Grass kein Altersphänomen. Sie beschäftigt ihn vom Anfang seiner literarischen Karriere an. Genauer: der Protest gegen die Endlichkeit, gegen das Verschwinden - in politischer wie in lebensweltlicher Hinsicht. Da ist einerseits der Versuch, die aus dem Blick geratene deutsche Vergangenheit in der Gegenwart zu halten, an die Medienlegende von der „Stunde Null“ hat Grass nie geglaubt, andererseits das Vanitas-Motiv, die Einsicht, dass letzthin alles vergänglich ist.

Dieses Erleben, das gern mit einer Feier des Augenblicks einhergeht, verbindet Grass mit den von ihm geliebten Künstlern des Barock. Der Zweite Weltkrieg war ja sein Dreißigjähriger Krieg. Und der Barock beflügelt noch den alten Grass, erbaut ihn, wenn nichts mehr zu ihm spricht.

Das zeigt die „Am ersten Sonntag“ überschriebene Notiz, in der Grass von der Konfirmation seiner Enkelsöhne berichtet, die ihn, den in geistlichen Dingen eher mutwilligen Mitmenschen, langweilt. Doch nicht ganz, denn: „Achja: Inmitten der evangelischen Jugendweihe spielte der Organist, vom Cello begleitet, ein Adagio und ein Andante von Torelli. Das war so schön wie draußen das Wetter.“ Torelli, der Barock-Violinist aus Bologna.

Gut komponiertes Buch

Es ist ein gut komponiertes Buch, das mehr als die Hälfte Gedichte bietet, durchaus kein Zettelkasten. Die Texte unterhalten sich miteinander. Ein Gedicht antwortet jeweils einer Prosaminiatur, macht diese sinnfälliger oder leichter. Das Gedicht „Selbstgespräch“ etwa („Allein mit Wörtern / die zerkaut zerfallen“) bietet das Echo auf die Beobachtung „Eigengeräusche“, das kulinarische Gedicht „Einst / schmorte auf kleiner Flamme…“ folgt auf die Fleischbeschau „Innereien“.

Die Zeichnungen von Federn, Tieren und Pflanzen laufen mit. Sie zeigen, dass Grass, wenn auch vor seinem eigenen Urteil nicht mehr literarisch, doch bis zuletzt grafisch auf der Höhe seiner Kunst war. Nur für das Zeichnen von Kühen hatte er kein Händchen.

Der längste Prosatext erzählt davon, wie sich Günter und Ute Grass ihre Särge nach eigenen Vorschlägen zimmern lassen: Kiefer für sie, Birke für ihn. Sie stellen die Kisten im Keller ab, liegen zur Probe: „Du sahst so zufrieden aus“, sagt die Ehefrau. Die lagert Dahlienknollen ihn ihrem Kasten. Bis die Särge gestohlen werden - und genauso überraschend wieder auftauchen.

„Vonne Endlichkait“ ist kein Lamento, sondern ein unsentimentaler Report aus der Todeszone. Die Mitschrift eines schwindenden Lebens, das bis zuletzt versucht, die Hoheit über sich selbst zu behaupten. Und über den eigenen Ort, der nicht die Tribüne, sondern immer die eigene Werkstatt war, zuletzt das Atelier in Behlendorf.

Nie war Günter Grass ein intellektueller Schriftsteller, sondern einer, der möglichst anfassen können muss, wovon er schreibt. Einer, der mit der Hand arbeitet, fühlt, denkt. Dem Sechsjährigem wurde 1934 das Schreiben mit der rechten Hand aufgezwungen. Aber den Krückstock fasste der Alte links.

Günter Grass: Vonne EndlichkaitSteidl Verlag, 176 Seiten, mit Abbildungen, 28 Euro
Günter Grass: Vonne EndlichkaitSteidl Verlag, 176 Seiten, mit Abbildungen, 28 Euro
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