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Günter de Bruyn Günter de Bruyn: Das Leben erzählen

Von Christian Eger 30.10.2001, 17:55
Günter de Bruyn (Foto: dpa)
Günter de Bruyn (Foto: dpa) ZB

Halle/MZ. - Zur Nacht sprach das Kind und es lauschten: der liebe Gott, weit droben, und das kleine weiche Ich, weit drinnen. Einallabendliches "Bilanzziehen" war das, schreibt Günter de Bruyn in seinem 1995er Essay "Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie". Um das Tagwerk ging es dem Kind, ums Handeln und Unterlassen. Und darum, ob das, was geschehenauch gottgefällig war.

Vielleicht, fragt Günter de Bruyn, war es genau diese frühe Übung in Rechenschaftsablegung,die den katholischen Halbwüchsigen zum frühenTagebuchschreiber machte - und wir dürfen weiterfragen: zum Literaten überhaupt? Zum Daseins-Verdoppler also, denn darum ging es ja auch: das erlebte Leben noch einmal zuleben.

Günter de Bruyn, als Sohn eines Übersetzersund einer Heimarbeiterin in Berlin geboren, ist zwölf als der Weltkrieg beginnt, mit 17 wird er Soldat, sein Kopf durch Granatsplitter derart verletzt, dass das Sprachzentrum zeitweise gelähmt ist. Der Krieg ändert alles: Blickwinkel, Denkmotive. "Das Glück, überlebt zu haben, verpflichtete mich, wie mir schien, auch wahrheitsgetreu Bericht darüber zu geben, wie es gewesen war."

Die Pflicht wird bleiben, dieser katholischgrundierte ethische Rigorismus, de Bruyns lauterer Ernst. Es bleibt das Behaupten der eigenen Wahrheit und das Umkreisen der Frage: Wie Geschichte, die sich doch nur als indivduelles Erlebnis einschreibt, "tatsächlich" gewesenwar, wie das äußerst Subjektive also objektiviertwerden kann.

Außer Christa Wolf, mit der de Bruyn eineJahrzehnte währende Freundschaft verbindet, hat kein anderer deutscher Autor seiner Generation diese Frage so nachhaltig ins Zentrum seiner Arbeit gestellt: Wie ein Ich zu reportieren sei, mit welchen Verlusten und Chancen sichWahrheit und Dichtung vermischen. Aus diesen Selbstanfragen und zeitgeschichtlichen Konstellationen rührt de Bruyns Vorliebe zum Leben nachschreiben, fernab von Dokumentaristenpinselei. Immer geht es auch um Selbstgeschichtsschreibung: So wenn sich der Bibliothekar de Bruyn in seinem Roman "Buridans Esel" dem entscheidungsschwachen Bibliothekar Karl Erp ("ein Meister der Selbstrechtfertigung") widmet, wenn der Brandenburg-Patriot in seiner Erzählung "Märkische Forschungen" den weltscheuen Amateurhistoriker Pötsch erfindet.

De Bruyn hat Sinn für das beschädigte Leben, das sich gegen ein stumpfes, aber zupackendes System zu behaupten hat. Dabei sind es die qua Amt überlebensgroßen Zwerge (und nichtselten Wichte), die das Negativ schaffen zu den Figuren, denen de Bruyns Sympathie gilt: den Einzelgängern, den Lebensdienstverweigerern - von Jean Paul über Tieck bis Böll.

Es gehört zu den Stereotypen der de Bruyn-Reflexion,den skrupulösen Lebensbildner als großen Zauderer und Winkelflüchter zu beschreiben. Das Raster stimmt dort, wo es de Bruyn autobiografisch selbst einräumt. Es ist falsch, wo es als Urteil über seine Zeitgenossenschaft verwendetwerden soll. De Bruyn ist ein Mensch, der sich Zeit lässt, was nicht heißt, dass er sie verschenkt. Er war 41 als sein erster Roman erschien. Zu alt? Fontane war ein Romancier-Debütant von 60 Jahren. Es waren dann die 90er Jahre, die das große Jahrzehnt de Bruyns werden sollten. So viel Klugheit in der Reflexion, so viel Fairness in der Kritik war bei aller Ost-Ermattung rundum bei kaum einem zweiten Autor seiner sozialen Genossenschaft zu finden - in dengroßen Erinnerungsbüchern "Zwischenbilanz" und "Vierzig Jahre", den Essaybänden zur deutschen Gegenwart und immer auch in den Ausflügen in die preußische Geschichte. Noch wenn man nicht de Bruyns Meinungen teilte, waren siedoch glasklar argumentiert.

Am Donnerstag wird Günter de Bruyn 75. Und er weiß, schreibt er in seinem neuen Essay "Unzeitgemäßes" (S. Fischer, 64 S., 23,47Mark), dass Entwürdigungen, die man einst locker hinnahm, im Alter "schmerzen, als seien sie noch akut".

(Artikel gekürzt - vollständiger Artikel vom 31.10.01 in der MZ)