1. MZ.de
  2. >
  3. Kultur
  4. >
  5. Giuseppe Ungaretti: Giuseppe Ungaretti: Im Herbst an den Bäumen die Blätter

Giuseppe Ungaretti Giuseppe Ungaretti: Im Herbst an den Bäumen die Blätter

Von Wilhelm Bartsch 22.04.2003, 20:12

Halle/MZ. - Wenn überhaupt irgendetwas aus dem Krieg als - trauriger - Sieger hervorging, so war es die moderne Poesie über den Krieg. Das beginnt schon im Oktober 1870 mit Rimbauds Sonett "Der Schläfer im Tal", eine Idylle, die erst in der letzten Zeile all ihren Schrecken enthüllt, da aber so brennglasscharf wie die berühmten Fotos toter Kommunarden in Paris ein Jahr später.

Das uns vielleicht bekannteste und eingängigste "Kriegs"gedicht - neben ganz andersgestaltigen etwa von Wilfried Owen oder Georg Trakl - stammt aber von Giuseppe Ungaretti, der 1888 "zwischen Wüste und Meer" im ägyptischen Alexandria geboren wurde und aufwuchs. Später in Italien kam für ihn das Gebirge hinzu: "Die Natur, die Landschaft, das mich umgebende Milieu sind stets ein wesentlicher Teil meiner Dichtung."

Umgebendes Milieu ist für den einfachen Soldaten Ungaretti ab 1915 bei Verdun und in der Champagne der Krieg. Das Gedicht in der Übertragung von Ingeborg Bachmann lautet: "SOLDATEN// So/ wie im Herbst/ am Baum/ Blatt und Blatt// Wald von Courton, Juli 1918".

Dagegen nun die neue, textgetreuere Fassung von Christoph Wilhelm Aigner: "SOLDATEN// Bosco di Courton, Juli 1918// wie/ im Herbst/ auf den Bäumen/ die Blätter" - "le foglie" lautet etwa tatsächlich auch die letzte Zeile bei Ungaretti. Die Bachmann strebte mit ihrer Nuance von "Blatt und Blatt" (also nicht ganz "Blatt um Blatt") in die Richtung einer Porträtierung der Toten, aber Rimbaud, Ungaretti (und Aigner) bleiben beim Naturtableau. Die grünende Natur ist schon bei Rimbaud verdaut und braucht gar den Toten wie Laub, und zwar völlig unbarmherzig.

Man muss sich überhaupt die kargen, fast "japanischen" Gedichte Ungarettis auf der inneren Zunge zergehen lassen, damit sie dann aber ganz groß aufgehen, ohne ihr Geheimnis zu verlieren. Was in diesem Gedicht jedenfalls passiert, entspricht eher sogar dem "Soldaten sind sich alle gleich/ lebendig und als Leich'" von Wolf Biermann.

Der Salzburger Meister großartiger Kurznachrichten aus der Primärwelt, Christoph Wilhelm Aigner, der übrigens auch meist in Italien lebt, ist genau der Mann, um etwas geschehen zu lassen, was selten geschieht: eine völlige Neubegegnung mit einem der lyrischen Großmeister der Moderne - Giuseppe Ungaretti. Es ist wie mit der Liebe, wo einem immer alles wie zum ersten Mal vorkommen will.

Giuseppe Ungaretti: "Zeitspüren", Gedichte, ausgewählt und übertragen von C. W. Aigner, Deutsche Verlags-Anstalt, München, 155 S., 18,90Euro.