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Geschichte der Sexualwissenschaft

Von Sandra Trauner 02.07.2008, 10:18

Frankfurt/Main/dpa. - Überlebt hat sich die Sexualwissenschaft bis heute nicht, auch wenn ihr Forschungsgegenstand «längst von den Massenmedien effektiver praktiziert» wird als von Wissenschaftlern.

«Sexualwissenschaft existiert, weil das sexuelle Elend nicht verschwand. Ungestillte Sehnsucht, aufgepeitschte Nerven, abgespeistes Verlangen, Geschlechtszweifel, enttäuschte Liebe, Sexismus, Doppelmoral, Verlagen, Angst und Schuld», schreibt der Frankfurter Sexualforscher Volkmar Sigusch, der zwei Jahre nach seiner Emeritierung eine 720 Seiten starke «Geschichte der Sexualwissenschaft» vorgelegt hat.

Wissenschaft und Sexualität, das gehe eigentlich gar nicht zusammen, findet der Autor, stehe doch Sexualität «für Triebhaftigkeit, Unkalkulierbarkeit, Irrationalität, und damit Unvernunft», Wissenschaft hingegen sei genau das Gegenteil. Vielleicht liegt hierin ein Grund, dass die Sexualwissenschaft sich ihr Terrain außerhalb der Hochschulen erstreiten musste; das erste staatlich finanzierte Universitäts-Institut wurde 1971 in Frankfurt gegründet und sein Direktor war just Volkmar Sigusch.

Nicht nur die Wissenschaft, sondern auch das Wort «Sexualität» ist jung: Erstmals wurde diese Vokabel vor gut 200 Jahren gebraucht - zunächst für die Geschlechtlichkeit von Pflanzen. Für Sigusch beginnt die Sexualwissenschaft um 1850, das Wort selbst kommt erstmals 1898 vor, in einem Aufsatz von Sigmund Freud. Als Pioniere des Fachs sieht Sigusch zwei völlig vergessene Männer, die unterschiedlicher nicht sein könnten: ein heterosexueller, katholischer, hochgeehrter Italiener (Paolo Mantegazza) und ein homosexueller, protestantischer, verfolgter und verarmter Deutscher (Karl Heinz Ulrichs).

Später ragt aus der Ahnenreihe Magnus Hirschfeld heraus, der 1919 in Berlin das weltweit erste «Institut für Sexualwissenschaft» gründete, eine privat finanzierte Mischung aus «Aufklärungszentrale, Beratungsstelle und Zufluchtsstätte», in der zeitweise auch Walter Benjamin und Ernst Bloch Untermieter waren. Wir lernen Vergessene kennen wie Helene Stöcker, die erste Frauenrechtlerin in dieser von Männern dominierten Disziplin. Aber natürlich begegnen uns auch alte Bekannte wie Alfred Kinsey, der in den USA in den 1950er Jahren zigtausende Männer und Frauen über ihr Sexualleben befragte, oder Sigmund Freud, «über den bisher mehr geschrieben wurde als über alle anderen Sexualforscher zusammengenommen» und der deshalb relativ knapp behandelt wird.

Die Themenfelder der Sexualwissenschaft waren ein Spiegel der Zeit. 1900 ging es um Überzeugungsarbeit, dass Masturbation nicht krank macht, den Schutz lediger Mütter, die Verhütung von Geschlechtskrankheiten im Bordell oder den Kampf gegen die strafrechtliche Verfolgung Homosexueller. Sigusch - stets um Vollständigkeit und Gerechtigkeit bemüht - verschweigt auch jene nicht, die mit «Gehirnoperationen zur Behebung von Sexualstörungen» experimentierten oder sexuelle Vorlieben auf den Durchmesser des Beckenausgangs zurückführen.

Und er blendet nicht aus, dass die Experten alles andere als einer Meinung waren. Schrieb der eine, dass sexuelle Enthaltsamkeit «als direkte Ursache schwerer körperlicher und seelischer Schädigungen zu betrachten» sei, empfahl der andere, dass «die leiblichen und geistigen und Versuchungen und Wirren des Lebens durch Enthaltsamkeit (...) gemeistert werden». Nach dem Zweiten Weltkrieg begann eine «verstehende Forensik», krankhaftes Sexualverhalten zu erklären. In den Vordergrund traten die Arbeitsfelder Paartherapie, Impotenz, Verhütung und Aufklärung. Der Schwerpunkt verschob sich vom Normativen zum Empirischen.

Die Geschichte der Sexualwissenschaft scheint von Anfang an geprägt von einem Abgrenzungs-Kampf gegen die Medizin. «Wie das Schlucken keine Ernährungswissenschaft konstituiert», könne am Körperlichen orientierte Medizin dem komplexen Phänomen Sexualität nie gerecht werden, bei dem immer «genetische, hormonelle, psychische und soziale Faktoren miteinander kommunizieren», findet Sigusch. «Kausalisten», die nach einem Gen für Homosexualität oder Besonderheiten im Hirn von Triebtätern suchen, sind ihm ein Graus, weil sie ausblendet, «dass die sexuelle Frage nur ein Teil der sozialen Frage ist».

Leicht zu lesen ist das umfangreiche Werk nicht, der Stil pendelt zwischen wissenschaftlich-dokumentarisch und essayistisch-persönlich, wobei eine gewisse Eitelkeit des - unbestreitbar bedeutenden - Autors auffällt, ebenso wie ein gewisser 68er-Jargon à la «manfrau». Dafür entschädigen spannende Einblicke in die nicht immer stromlinienförmigen Biografien der vielen Gründungsväter und der wenigen Gründungsmütter einer Disziplin.

Immer wieder macht der Autor in den von Abbildungen und Dokumenten unterbrochenen 540 Textseiten deutlich, was sein opus magnum nicht sein will, nämlich keine Geschichte der Sexualität; Pille und Aids kommen nur am Rande vor. Er wollte die Geschichte einer wissenschaftlichen Disziplin schreiben, die in ihrer Blüte von jüdischen Wissenschaftlern getragen und dann von den Nazis ausgerottet wurde. Die - zum Teil aus persönlicher Motivation heraus und mit privatem Kapital - außerhalb der Universität entstand und bis heute dort nicht richtig angekommen ist.

Volkmar Sigusch

Geschichte der Sexualwissenschaft

Campus Verlag

720 S., 39,90 Euro

ISBN 978-3-593-38575-4