Gegenkultur Gegenkultur: Schwarzmieter in der DDR - Aufbruch im Abriss
Halle (Saale)/MZ. - Der Traum der Eltern war noch eine Neubauwohnung gewesen, fließend Wasser, Fernheizung, mit Balkon. Die Kinder aber nahmen sich so etwas hier in der halleschen Martha-Straße: Vorhang statt Tür, verfaulte Stufen, durch die Fensterrahmen pfeift der Wind. Auf dem Boden verteilt liegen immer Dutzende leere Weinflaschen. Zum Klo sind es zwei Treppen. Wenn geheizt werden muss, werden Kerzen angesteckt.
Halle an der Saale, Mitte der 80er Jahre. Die Wohnungsfrage als "soziales Problem", so hat es Staats- und Parteichef Erich Honecker anderthalb Jahrzehnte zuvor versprochen, werde bis 1990 gelöst. Fünf Jahre vor dem gesetzten Termin sind die Aussichten düster. Wer raus will aus dem elterlichen Heim, auf eigenen Füßen stehen und die abends auch unter den eigenen Tisch stecken, dem nützt das "größte Wohnungsbauprogramm der Geschichte" gar nichts. Schneller als die sozialistischen Bauarbeiter neue Betonsiedlungen aus dem Boden stampfen können, brechen die historischen Innenstädte zusammen.
Wohnraum bleibt ein Traum
Eigener Wohnraum bleibt für viele ein Traum, die versuchen, ihn über den Antragsweg zu bekommen. Einfacher ist es, sich zu nehmen, was ohnehin herumsteht. Schon Ende der 60er Jahre waren einzelne junge Leute stillschweigend einfach in leer stehende Wohnungen eingezogen. In der Endzeit der Arbeiter- und Bauernrepublik aber, so beschreibt der Historiker Udo Grashoff in seinem ungewöhnlichen DDR-Heimatbuch "Leben im Abriss", das im Hasenverlag Halle erschienen ist, wurde so genanntes Schwarzwohnen dann zur vielgenutzten Möglichkeit, zu einer eigenen Bleibe zu kommen, ohne auf behördliche Gnade oder gute Beziehungen angewiesen zu sein.
Der Preis dafür waren die Umstände, unter denen Studenten, angehende Künstler und junge Arbeiterfamilien zu hausen gezwungen waren. Denn eine Wohnung besetzen ließ sich in der DDR, die ihren Bestand zentral verwaltete und vergab, nur dort, wo Häuser und komplette Straßenzüge aufgegeben worden waren. Zum Glück für die Generation, die Grashoff schildert, warteten in Halle ganze Stadtviertel auf den Bagger, der Platz machen sollte für modernes, sozialistisches Wohnen. Und meist warteten sie lange. Plan und Realität gingen nicht zusammen. Mitten zwischen ihnen klafften plötzlich Freiräume, die mit mal mehr und mal weniger Erfolg erobert und behauptet werden konnten.
Der Komfort, von dem Zeitzeugen wie die spätere Bürgerrechtlerin Heidi Bohley oder der Maler Moritz Götze erzählen, lag nicht in Fernheizung und gefliestem Bad. Sondern in der Freiheit, plötzlich selbstbestimmt zu leben. Im Abriss etwa in Halle-Glaucha oder in den weiträumigen, zur Planierung vorgesehenen Gebieten in bester City-Lage ging, was als unmöglich galt. Wohngemeinschaften fanden zusammen, junge Familien schufen sich in improvisierten Müllräum- und Reparatureinsätzen versteckte Gemeinschaftsquartiere unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der Behörden. Eine Gegenkultur nicht gegen den Staat, sondern abseits seiner Regelungsrituale.
"Politischer Protest spielte kaum eine Rolle", analysiert der Autor, der selbst Wurzeln in den oppositionellen Literaturkreisen der End-DDR hat. Schwarzbezug sei "individuelle Selbsthilfe angesichts der Unfähigkeit des Staates" gewesen, "sein Versprechen auf Wohnraum für alle zu erfüllen". Im Gegensatz zum Westen, wo Wohnraumbesetzungen als Teil des politischen Kampfes begriffen wurde, war das "Schwarzwohnen" eine Art Mundraub: "Ein schlechtes Gewissen hatte man als Schwarzwohner nicht", hat Grashoff in zahllosen Gesprächen mit ehemaligen Abriss-Bewohnern herausgefunden, "die meisten Schwarzwohner zahlten sogar Miete."
Miete für Hütten, die oft von Schimmel befallen waren, Löcher in Dächern und Böden hatten, dafür aber keine Toilette, die erst wieder mühsam mit aus anderen Ruinen gestohlenen Fenstern versehen werden mussten und trotzdem selbst baufällig blieben. "Damit verband sich die Hoffnung, mit Wohlwollen behandelt zu werden, wenn man erwischt wurde."
Schwarzmieter als Sanierer
Eine Hoffnung, die nicht immer trog. Manchmal gingen die "zuständigen Organe" zwar hart gegen Schwarzwohner vor. Vor allem bei Wohngemeinschaften, die Polizei und Staatssicherheit durch laute Partys aufgefallen waren, wurden Zwangsräumungen angeordnet und Geldstrafen verhängt. In anderen Fällen fand Udo Grashoff in den Archiven aber auch Akten, die von Siegen der Besetzer über die Verteilungsbürokratie kündeten. Die Abteilungen Wohnungswirtschaft legalisierten die Ansiedlung in Abrisshäusern dann nachträglich mit Hilfe so genannter "Ausbauverträge". Schwarzwohner wurden zu Mietern, die aufgerufen waren, zu sanieren, was der Staat nicht mehr sanieren konnte.