Freie Kammerspiele Magdeburg Freie Kammerspiele Magdeburg: Westwärts und nicht vergessen
Magdeburg/MZ. - Statt Russen und Bulgaren stehen nun alsoNorweger und Amerikaner auf dem Spielplan,der am Wochenende per Handstreich gefülltwurde. Dass Wellemeyer neben den neuen Perspektivenauch das Team seines Vertrauens vorstellte,ließ den Blick auf das Eröffnungs-Spektakeldoppelt spannend werden. Dass er sich selbstmit Jon Fosses "Die Nacht singt ihre Lieder"vorstellte, war hingegen eine weniger klugeEntscheidung.
Denn obwohl der skandinavische Miniaturen-Meisterderzeit ein Favorit der deutschen Theater-Avantgardeist, reduzieren gerade seine Stücke den Spielraumdes Regisseurs in besonderer Weise. Da siebevorzugt vom Sterben der Liebe am Verlustder Sprache handeln, ist die Eskalation desSchweigens mindestens ebenso nötig wie dergesprochene Text. Dass dieses Crescendo desVerstummens aber Schauspieler verlangt, dieihren Mitteln wie ihren Partnern bedingungslosvertrauen können, reduziert die Zahl der füreine Aufführung in Frage kommenden Ensemblesauf eine Handvoll.
Ob die Kammerspiele einst zu dieser Elitezählen werden, bleibt abzuwarten. Gegenwärtigjedenfalls scheitert das junge Team geradean dem Eifer, mit dem es zu Werke geht. Stattder Lähmung herrscht eine Hektik, die Fossesbewusst belanglosen Sprach-Routinen oft falscheBedeutung beimisst und letztlich die Katastrophezur Groteske verzerrt. In Igor BauersimasDialog "norway.today" umgeht Gerald Glutheine ähnliche Gefahr, indem er den Darstellernmediale Hilfsmittel an die Hand gibt: SeineProtagonisten, die sich aus Lebensüberdrussvia Internet zum gemeinsamen Freitod verabredenund ausgerechnet in Fosses kalter Heimat ihrLeben neu zu fühlen beginnen, agieren vorWebseiten und Video-Clips. Und werden geradedurch die flächige Verdopplung ihrer Körperund Sätze plastisch.
Das erste kultverdächtige Stück der neuenÄra aber spielt an den Fenstern im Foyer,wo Gesine Danckwarts "Girlsnightout" von LukasLanghoff in Szene gesetzt wurde. Der freiauf drei Frauen zu verteilende Redefluss strömthier durch ein Bordell, das auf vertrackte -und logische - Weise auch ein Theater ist.Die Huren spielen - wie Schauspielerinnen -ihre Rollen und träumen vom Glück, das irgendwozwischen dem richtigen Mann und dem richtigenStück zu suchen ist. Die brüchige Adaptiondes Textes ist eine blitzgescheite und liebevolleHommage an das Theater, die sich eine augenzwinkerndeVerbeugung vor der Ära Bunge ebenso wie dieUmspielung des neuen Kammer-Tons gestattet.
Dass jenes starke Geschlecht, von dem diedrei grandiosen Darstellerinnen hier schwärmen,intellektuell eher schwächelt, zeigt am nächstenAbend Carsten Andörfers Liederabend "unsterblich".Nach dem Spiel ist hier vor dem Stück: Ausder Kulisse eines Fußballstadions treten dieArchetypen der Fankurve, um sich an der Bierbudezu feiern. Da sitzt man einvernehmlich schenkelschlagendim Parkett und amüsiert sich prächtig unterNiveau: Was haben der kraftmeiernde Netzhemdträger,der bierbäuchige Altrocker oder der sentimentaleYuppie schließlich mit dem aufgeklärten Kammerbesuchergemein? Gewiss nicht den Musik-Geschmack,der vornehmlich im Seichten gründelt. Nurselten klingt es nachdenklich - Westwärtsund nicht vergessen?