Franckesche Stiftungen in Halle Franckesche Stiftungen in Halle: Alfred Grosser hält Vortrag über Verantwortung

halle (Saale)/MZ - „Es ist eine Pflicht, anders zu sein“, sagt Alfred Grosser mit einem Hauch von Pathos vor der halleschen Politik- und Universitätsprominenz. Anlässlich des 351. Geburtstages von August Hermann Francke hatte man den europäischen Denker am Samstag in den Freylinghausen-Saal gebeten, um das Kulturprogramm der Franckeschen Stiftungen zum Thema „Verantwortung. Lernen – Tragen – Teilen“ zu eröffnen.
Der heute 89-Jährige war mit seiner Familie 1933 von Deutschland nach Frankreich emigriert und widmete sein Leben der Aussöhnung beider Nationen. Sich selbst versteht er als Atheisten, „der dem Christentum nahe steht“.
„Der Begriff Kollektivschuld ist falsch“
Zum dritten Mal schon besucht der emeritierte Politikprofessor aus Paris die Saalestadt. Staatsmänner von Chirac bis Sarkozy saßen in seinen Vorlesungen. An diesem Vormittag sind es ein paar hundert Hallenser, die den Ideen über Verantwortung und Francke folgen dürfen. Grosser beschäftige sich schon früh mit dem außergewöhnlichen Protestanten aus Halle. In seinem Vortrag schlägt der Franzose deutsch-jüdischer Herkunft nun einen großen Bogen von der Aufklärung bis heute.
Angesichts der Gräuel des 20. Jahrhunderts weist Grosser auf die Verantwortung hin, die Menschen übernehmen mussten und müssen. „Der Begriff Kollektivschuld ist falsch.“ In ihm stecke das Denken über „die Deutschen“, das genauso falsch sei wie das Denken über „die Juden“. Vielmehr habe schon Willy Brandt, ein Unschuldiger, mit seinem Kniefall vor dem Warschauer Ghetto bewiesen, dass es um die Mit-Verantwortung geht.
Grosser findet auch kritische Worte
Francke wiederum habe die Notwendigkeit sozialer Verantwortung erkannt. Mit seinen Kontakten zum Adel und seinem Einsatz für die Armen, mit seinem Verständnis von Aufstieg durch Bildung sei er auch ein Mittler gewesen. Aber Grosser findet auch kritische Worte: „Das Gesellschaftliche ist Verantwortung.“ Die dominierende Frömmigkeit und Gottgläubigkeit des deutschen Pietismus fördere nicht unbedingt das kritische Denken. In einer Berufung dürfe man sich nicht zurückziehen.
„Sie haben sich nicht gekümmert, wer oben war“, begründet Grosser das Zusehen vieler Deutscher - deshalb die Mit-Verantwortung. Seinen Vortrag beendet er mit einem Zitat von Kant, der die Aufklärung als „Ausweg des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ beschreibt. Verantwortung, das ist für Alfred Grosser vor allem die Kraft des freien Denkens.
Nach langem Applaus dankt der Direktor der Stiftungen, Thomas Müller-Balke, Grosser für die Worte. Man werde seine Überlegungen an die Pietismus-Forschung weitergeben, sagt er schmunzelnd.