Fotografie von Gerhard Weber Fotografie von Gerhard Weber: Schloss Merseburg zeigt ungeschminkten DDR-Alltag

Merseburg - In der DDR bildeten sich an ganz unterschiedlichen Orten Schlangen. Doch die Menschenketten hatten stets ein und dasselbe Ziel: Etwas zu ergattern, was heiß bei den Bürgern des Landes der begrenzten Möglichkeiten begehrt, aber selten zu haben war. Im Jahr 1984 kam es auf dem Marktplatz von Grimma zur Schlangenbildung, da eine ortsansässige Gärtnerei Pflanzen anbot.
Vier Jahre darauf sammelten sich Einwohner der Muldestadt unter anderem vor der Volksbuchhandlung, als der Bildtextband „Muldental“ in die Läden kam. Nicht nur besagtes Buch stammt von Gerhard Weber, sondern auch die beiden „Schlangen“-Aufnahmen. Sie stehen am Anfang der Ausstellung „Das Leben in der DDR“ des Kulturhistorischen Museums Merseburg, in der 94 Schwarz-Weiß-Fotografien vereint sind, die Gerhard Weber (79) vor allem in den 70er und 80er Jahren aufnahm.
Um den ungeschminkten DDR-Alltag dokumentieren zu können, nutzte er die Möglichkeiten, die sich ihm zwischen 1970 und 1986 als Bildreporter der Lokalredaktion Grimma und Wurzen der „Leipziger Volkszeitung“ boten: Nach offiziellen Presseterminen machte er in diesem und jenem Betrieb oft und gern noch Aufnahmen in eigenem Auftrag. Vor allem diese sind in Merseburg zu sehen.
Frauen in der Industrie
Da sind etwa Werktätige des VEB Wasserglasfabrik Wurzen angetreten zur Grippeschutzimpfung, die 1984 mit der Spritzpistole verabreicht wurde. Oder ein SED-Funktionär, der 1986 die erkennbar wenig begeisterte Jugendbrigade „Alter Stall“ der LPG Großenbothen nach Kräften agitiert. Oder zwei junge Frauen aus dem VEB Baumwollspinnerei Naunhof, die 1982 fast unverschämt kurze Schürzen tragen.
Frauen sind allenthalben in der DDR-Arbeitswelt und also auf den Bildern von Weber präsent. Nicht nur in der Leicht-, sondern auch in der Schwerindustrie. Weber zeigt sie etwa, wie sie Portalkräne steuern und tonnenschwere Papierrollen per Hand bewegen. Dass der Arbeitsalltag in der DDR sehr hart war, bezeugen nicht zuletzt jene Tabakfrauen aus Seelingstädt, die mit ihrer groben Kleidung und den Kopftüchern wie aus einem Gorki-Roman entsprungen scheinen, obwohl das Bild von 1988 datiert.
Es sind Momentaufnahmen wie diese, die dem fotografischen Werk von Gerhard Weber historische Bedeutung verleihen. Das Prädikat „besonders wertvoll“ verdienen auch zwei Foto-Serien, die aus den 80er Jahren stammen. Ab 1983 entstand im Auftrag der Gesellschaft für Fotografie des Kulturbundes der DDR eine Dokumentation über die Bewohner von Erlln, einem kleinen Ort im Muldental, der damals gerade einmal 30 Anwesen und rund 100 Bewohner zählte.
Dort präsentierte Weber 1985 seinen 80 Aufnahmen umfassenden Zyklus in einer Ausstellung unter freiem Himmel: Hier sieht man die Freude alter Frauen, als die Postfrau kommt, dort einen lächelnden Mann, der sein Lieblingshuhn auf dem Arm trägt oder Kinder, die dem Fotografen die Zungen rausstrecken.
Eine Ausgewogenheit zwischen Nähe und Distanz wahrt der Fotograf auch in einer kurz vor der politischen Wende begonnenen Serie, in der Weber 80 Familien und Einzelpersonen in Colditz, seinem damaligen Wohnort, in ihrem persönlichen Umfeld porträtierte. Dass er in dem Ort als Pressefotograf bekannt war wie ein bunter Hund, öffnete ihm so manche Tür.
Ein Ehepaar, er Fußpfleger und sie Verkäuferin, zeigt sich dem Fotografen daheim in Trainingsanzügen, während ein Straßenkehrer im Ruhestand - wie berührend - den Termin ernst genommen und Sonntagsstaat angelegt hat, auch wenn die Hose des kleinen Mannes viel zu lang ist und die Hosenträger viel zu breit sind.
Stellvertretend für das Land
Die Aufnahmen sind zwar fast ausschließlich in Städten und Dörfern im Tal der Mulde entstanden, doch sie können stellvertretend für das öffentliche und private Leben in der gesamten DDR stehen. Denn die Bilder von meist hart arbeitenden, oft spartanisch lebenden und dem Schicksal trotzdem mit einem Lächeln begegnenden Menschen glichen sich einst zwischen Arkona und Zwickau.
Der Merseburger Museologe Joachim Riebel, der die Schau mit viel Augenmaß und Empathie kuratierte, beantwortet die Frage, weshalb er sich - um an das Leben in der DDR zu erinnern - für Webers Fotografien entschieden habe, mit einem ebenso schlichten wie vielsagenden Satz: „Mir sind Gerhard Webers Fotos ans Herz gewachsen.“ Das mag so manchem Betrachter ähnlich gehen. (mz)
›› „Gerhard Weber: Das Leben in der DDR“, Kulturhistorisches Museum Schloss Merseburg, bis zum 23. Februar, Di-So 10-16 Uhr. Am 7. Dezember und 1. Februar, jeweils um 14.30 Uhr, Gespräch und Rundgang durch die Ausstellung mit Gerhard Weber
