Fotografie Fotografie: Roger Melis legt Künstlerporträts aus 40 Jahren vor

Leipzig/ddp. - Müde sieht Anna Seghers aus, ihre leichthochgezogenen Augenbrauen und die nach unten deutenden Mundwinkelverraten Missmut und eine leichte Genervtheit. «Ich sollte Seghers1968 für ihren Verlag porträtieren, doch sie bot mir nur stereotypePosen an, setzte sich für die Kamera an eine Schreibmaschine undblätterte in einem Buch», erinnert sich Roger Melis, Fotograf derSzene. «Ich habe ihr «nonverbal unmissverständlich» klargemacht, dassich sie aber sehen möchte, wie sie wirklich ist.»
Das Foto schmückt den Titel eines im Leipziger Lehmstedt-Verlagerschienenen Bildbandes mit rund 200 Künstlerporträts von Melis. Diein den Jahren 1962-2002 entstandenen Schwarz-Weiß-Bilder desrenommierten Fotografen bieten überraschende und intime Einblicke inden Literatur- und Kunstbetrieb der DDR. Namen wie Christa Wolf oderChristoph Hein verdeutlichen Kontinuitäten, andere Abgebildete habenes nicht herüber ins Jetzt geschafft.
Als Berufsfotograf fängt der 1940 Geborene in der OstberlinerCharité an zu arbeiten. Später macht er sich als Reportage- undModefotograf einen Namen und veröffentlicht auch in westdeutschenMedien. 1965 wird Melis zusammen mit seinen älteren und damalsbereits bekannten Kollegen Evelyn Richter und Arno Fischerbeauftragt, ein internationales Schriftstellertreffen in Weimar zudokumentieren. Ein Glücksfall für ihn: Die Fotos, die er von Autorenwie Pablo Neruda oder Miguel Ángel Asturias macht, öffnen ihm als«Schriftstellerfotograf» die Türen in renommierte DDR-Verlage.
Seine frühen Künstlerporträts verraten einige Unbefangenheit. DasLicht im Raum, Mimik und Körpersprache der Porträtierten fängt Melisaus der Bewegung heraus ein: Die Schriftstellerin Christa Reinigbläst eine fahle Rauchwolke über den Tisch vor sich, dem Autor undMaler Gotthold Gloger fliegen die Seiten eines Buches unter denFingern hinweg, Günter Grass zerzaust sich sein Haar.
Dieses Arbeiten mit dem «entscheidenden Augenblick» weicht mit denJahren zunehmend exemplarischeren Porträts. Melis gibt derSelbstdarstellung der Porträtierten Raum und legt dabei gleichzeitigsehr Persönliches frei. Die Privaträume, in denen Melis die Künstlermeistens fotografiert, tragen ein Übriges zur Erzählung bei. BettinaWegner sitzt erschöpft auf ihrem Sofa, tiefe Ringe unter den Augen,die nackte Wand hinter ihr zeigt die Umrisse von Bilderrahmen. DieBilder sind in Kisten verpackt, die Liedermacherin bereitet ihreAusreise vor. DDR-Stararchitekt Werner Henselmann hingegen stütztsich auf seinen Schreibtisch, die Hand ruht auf einer sowjetischenFachzeitschrift - Details über Personen, Situationen und vergangeneZeiten.
Hinter die Selbstinszenierungen, manchmal auch zum Seelenkern derPorträtierten gelangt Melis mit Hilfe seiner vielleicht bedeutendstenGabe: «Ich habe das wahnsinnige Glück, dass ich mich angenehm machenkann, dass die Leute sich mir vertrauensvoll beim Fotografierenüberlassen.» In den Achtziger Jahren sucht Melis immer häufiger auchMaler und Bildhauer auf dem Prenzlauer Berg auf. Ihrem unangepasstenLeben entspricht eine fotografische Sprache, die den Rahmen desStatuarischen verlässt.
Melis fängt das Unbotmäßige, Stolze und oft zugleichMelancholische und Bedrohte der Subkultur ein. Melis betont, dass dieKünstlerbildnisse nicht losgelöst von den Bildern in seinem zuvorerschienenen, viel beachteten Band «In einem stillen Land» zuverstehen seien. Auch dort habe er porträtiert, nur eben Arbeiter undHandwerker.
