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Filmfestspiele von Venedig Filmfestspiele von Venedig: Goldener Löwe geht nach Lateinamerika

Von Frank Olbert 13.09.2015, 16:55
Lorenzo Vigas aus Venezuela mit dem Goldenen Löwen für seinen Film „Desde Allá“.
Lorenzo Vigas aus Venezuela mit dem Goldenen Löwen für seinen Film „Desde Allá“. dpa Lizenz

Als Alfonso Cuarón, der mexikanische Regisseur, Oscar-Preisträger („Gravity“) und Vorsitzende der diesjährigen Wettbewerbs-Jury am Lido, den Namen des Gewinners verlas, ging ein Raunen durch den Saal – sogar vereinzelte Buh-Rufe wurden laut. Lorenzo Vigas aus Venezuela erringt den Goldenen Löwen der Filmfestspiele von Venedig, und das darf man wohl einen klaren Außenseitersieg nennen. Sein Drama „Desde Allá (From Afar)“ lief im letzten Drittel des Wettbewerbs, und der Sieg für diesen Beitrag ist auch eine filmpolitische Premiere: Zum ersten Mal in der Geschichte des ältesten Filmfestivals der Welt ging der Hauptpreis nach Lateinamerika. Mit ihrer 72. Ausgabe hat sich die Mostra dank Cuarón und seiner Mitstreiter wie der deutschstämmigen Schauspielerin Diane Kruger und dem türkischen Regisseur Nuri Bilge Ceylan also endlich geöffnet, um einem neuen Filmkontinent die Ehre zu erweisen. Dass dieser allemal preiswürdig ist, dafür ist schließlich nicht zuletzt der Juryvorsitzende selbst das beste Beispiel.

Wettbewerb mit Stärken und Abstürzen

Nur gucken, nicht anfassen – nach dieser Devise handelt in „Desde Allá“ der nicht mehr ganz junge Armando, der sich mit seinem vielen Geld junge Männer kauft. Aber eben nur, um sie aus der Distanz zu betrachten. Mit dem Straßendieb Elder ändert sich diese Gewohnheit schlagartig, und Armando, der es versteht, sich die Welt vom Leib zu halten, ist plötzlich ungeahnter Gewalt ausgesetzt: Es ist ein gesellschaftliches Klima voller Brutalität und Misstrauen, das auf die Männerbeziehungen durchschlägt, die Vigas in seinem Film entspinnt – dass der 1967 geborene Venezolaner nicht allein Löwen-Gewinner, sondern darüber hinaus auch Spielfilmdebütant ist, macht die Überraschung nur umso perfekter.

Sie setzte am Samstag den Schlusspunkt in einem Wettbewerb, der seine Stärken besaß, aber eben auch den einen oder anderen Absturz erlebte – wie mit dem südafrikanischen Beitrag „The Endless River“ von Oliver Hermanus, der ebenfalls davon erzählen will, wie sich gesellschaftliche Gewalt auf private Beziehungen auswirkt, mit zunehmender Dauer aber einfach zu vergessen scheint, worum es ihm eigentlich geht. Die alten Meister hingegen hat die Jury um Alfonso Cuarón fast demonstrativ ignoriert, obwohl sie allesamt beachtliche Filme abgeliefert haben: Amos Gitais „Rabin, the Last Day“ war ein Musterbeispiel des klugen, dikursiven politischen Kinos, das am Einzelfall des ermordeten Ministerpräsidenten eine historische Weichenstellung deutlich machte.

Favoriten gingen leer aus

Aleksander Sokurov betätigte sich mit „Francofonia“ erneut eindrucksvoll als filmischer Archäologe, diesmal in den Tiefen des Louvre, den er zur Zeit der deutschen Besatzung befragte – und Jerzy Skolimowski demonstrierte mit „11 minut“ sein ingeniöses inszenatorisches Geschick. Doch nichts davon gewann einen Löwen, ebenso wenig wie jene Filme, die als Favoriten in den Wettbewerb gingen: Tom Hoopers allzu parfümiertes „Danish Girl“ mit Eddie Redmayne in der Haupt- und Titelrolle ging ganz zurecht leer aus; Cary Joji Fukunagas „Beasts of no Nation“ konnte immerhin den nach Marcello Mastroianni benannten Nachwuchspreis für Abraham Attah erringen, der mit beklemmender Überzeugungskraft in die Rolle eines Kindersoldaten schlüpft.

Stattdessen gewann mit Pablo Trapero aus Argentinien ein weiterer Südamerikaner, der sich in „El Clan“ wie Vigas ebenfalls mit Gewalt als Erbe der Militärdiktaturen auseinandersetzt. Und dass der Große Preis der Jury dann an „Anomalisa“ von Charlie Kaufman und Duke Johnson, zeigt den Sinn des Gremiums für ästhetische Wagnisse: Diese Liebesgeschichte ist ein Animationsfilm mit unendlich melancholischen Puppen. Die Puppen ließ auch Cuarón tanzen.