Fernsehen Fernsehen: Geglückte Flucht aus der DDR per Schiff

Berlin/dpa. - Nichts ist verblasst: Die 62-jährige Jutta Graberthat ihre Flucht aus der DDR vor 44 Jahren noch einmal erlebt. Siegehörte zu 13 jungen DDR-Bürgern, die im Morgengrauen des 8. Juni1962 im Kugelhagel unverletzt mit dem Ausflugsdampfer «FriedrichWolf» über die Spree nach West-Berlin entkamen. Nun sah Grabert andiesem Montag in Berlin zusammen mit damaligen Gefährten dieVoraufführung des Films, den die ARD an diesem Mittwoch um 23.05 Uhrzeigt.
Die ARD strahlt die Dokumentation des Westdeutschen Rundfunks(WDR) mit dem Titel «Letzte Ausfahrt West-Berlin - 138 Schüsse aufdie Friedrich Wolf» von Inga Wolfram und Helge Trimpert damit wenigeTage vor dem 45. Jahrestag des Mauerbaus (13. August) aus. «Es istnach einmal alles vor mir abgelaufen», sagte Grabert sichtlichberührt. Die junge Frau floh zusammen mit Freund und Baby in denWesten. Das Kind habe wie durch ein Wunder nicht geschrien.
Regisseurin Inga Wolfram sagte, sie wollte Geschichte nacherlebbarwerden lassen. Zugleich habe sie mit Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Mauerund Stacheldraht auch an die erinnern wollen, denen die Flucht nichtgelang oder die den Mut dafür nicht aufbrachten. Symbolisch beginntund endet der 45-Minuten-Film mit Winterbildern und Eisschollen.
Nach Angaben des Westdeutschen Rundfunks (WDR), der den Film inAuftrag gegeben hatte, fallen Schlaglichter auf die Zeit des KaltenKrieges an der Nahtstelle von Ost und West. Die Rekonstruktion derFlucht zusammen mit historischen Film- und Tondokumenten sei weitmehr als eine Fußnote der Geschichte.
Sie sei fasziniert gewesen von der «Pfiffigkeit» der jungen Leute,die teilweise zu der Besatzung des größten Ausflugsdampfers derOstberliner «Weißen Flotte» gehörten und die in nur 15 Minuten denDampfer entführten, sagte die Regisseurin. Die Stasi registrierte biszur Wende den einzigen «DDR-Grenzdurchbruch» mit einem Schiff. Beiden Recherchen habe sie auch auf die Unterstützung der Stasi-Unterlagenbehörde zählen können.
Zu dem «Husarenstück» gehörte laut Regisseurin auch, dass dieFlüchtlinge zuvor den Kapitän betrunken machten und damit an dieSchlüssel herankommen konnten. Den Maschinenraum sicherten sievorsorglich mit Stahlplatten gegen die Schüsse der DDR-Grenzsoldaten.Die einmalige Chance war eine geplante Schiffs-Reparatur im Osthafen.Ansonsten wäre der Dampfer überhaupt nicht in Grenznähe gekommen.
Der damals 19-jährige Peter Warszewski übernahm beherzt dasSteuer. Er freut sich noch heute, dass er mit wehender DDR-Fahne amSchiff in den Westen fuhr. Das habe ein paar kostbare Sekundengebracht, bevor die Grenzsoldaten diesen Teil des Täuschungsmanöversbemerkten. Mit dem Film sei er sehr zufrieden, sagte der in Spanienlebende Bauunternehmer.
Peter Currle, zweiter Steuermann auf dem Fluchtschiff, meinte imFilm, er habe nicht eingemauert leben wollen. Und Schiffskoch JörgLindner sagte in die Kamera, das Schlimmste sei das Gefühl gewesen,durch den Mauerbau in der DDR eingesperrt zu sein. Er habe zwar auchAngst gehabt, aber zu so einer Wahnsinnstat seien nur junge Menschenfähig, über die Konsequenzen einer misslungenen Flucht habe er damalsnicht richtig nachgedacht. Lindner lebt heute in Schweden und lehrtGeschichte an einer Universität.
Ausgerechnet das frühere Mitglied des SED-Politbüros, GünterSchabowski, lobte den Film als eindrucksvoll. Er sei gerade für jungeMenschen wichtig, sagte der als Zeitzeuge Geladene. Vermittelt werde,wie solcher «Wahnsinn» der DDR-Führung zu Stande kam, dass Menschenverboten wurde, anderer Meinung zu sein. Aus Sicht des Politbürosseien DDR-Flüchtlinge Verräter gewesen, «dumpfe Menschen, die denVersuchungen des Westens erlegen waren». Rund zwei Millionen Menschenverließen laut Schabowski vom Mauerbau bis zum Herbst 1989 die DDR.