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Fazit Fazit: So war das Filmfestival 2016 in Cannes

Von Anke Westphal 20.05.2016, 19:15
Kranke Fantasien, hochgradig stilisiert: Nicolas Winding Refns Wettbewerbsfilm „The Neon Demon“.
Kranke Fantasien, hochgradig stilisiert: Nicolas Winding Refns Wettbewerbsfilm „The Neon Demon“. Filmfestival Cannes

Drei Tage lang hatte der Streik Frankreich im Griff. Auch im Städtchen Cannes fuhren die Busse nicht, Flüge wurden annulliert. Besucher des 69. Filmfestivals mussten ihre Abreise aufschieben. Der Kampf gegen François Hollandes neue Arbeitsgesetze hingen wie ein Schatten über der Croisette. In den Festspielkinos war der Aufstand von unten eines der filmischen Themen; es fasste ein allgemeines Missbehagen in Bilder. Was wird noch bleiben von diesem „Festival de Cannes 2016“? Die Antwort ist: gewiss nicht der enttäuschende Wettbewerb, doch es gab auch einiges Erfreuliches.

Da ist zum einen die Tatsache, dass Komödien durchaus möglich sind in der Konkurrenz eines weltweit renommierten Filmfestivals. Regiearbeiten wie „Toni Erdmann“ von Maren Ade und „Ma Loute“ von Bruno Dumont stießen, von ihrer jeweiligen Qualität einmal abgesehen, schon wegen der relativen Seltenheit des Genres in den A-Wettbewerben auf große Aufmerksamkeit, wenn nicht gleich Dankbarkeit bei den Zuschauern.

Mit Maren Ades Film feierte das deutsche Kino zudem eine triumphale Rückkehr in die „Compétition“ von Cannes. Eine Goldene Palme mag unwahrscheinlich sein, ist aber nicht unmöglich. „Sandra Hüller, deutsche Qualität“ betitelte die französische Tageszeitung Libération ihre Hommage an die Hauptdarstellerin von „Toni Erdmann“. Unter dem Kicker „Wunderbar“ hieß es weiter: „Toni Erdmann – à tomber pater“. Euphorisch nahmen vor allem die Franzosen den Film auf – und gestanden, dass sie kaum etwas wüssten über jüngere deutsche Regisseure, da sie den deutschen Film immer noch Fassbinder und Werner Herzog verhaftet glauben.

Tolle Hauptrollen für Frauen jeden Alters

Dieser Irrtum wäre also korrigiert. Und auch ein anderer wurde widerlegt. Entgegen den Behauptungen zumeist männlicher Studio-Execs beweist Cannes 2016 eindrucksvoll, dass es tolle Hauptrollen für Frauen jeden Alters gibt und dass diese eine Major-Produktion mühelos schultern. Die US-Schauspielerin Kristen Stewart hat nun mit gleich zwei Festivalfilmen ihren Ruf als Charakterdarstellerin gefestigt; ein Star ist sie sowieso. Sandra Hüller und Jaclyn Jose dürften sich bereit machen für eine internationale Leinwandkarriere. Ältere Schauspielerinnen wie Sonia Braga oder Nathalie Baye reklamierten die Leinwand derart fulminant für sich, dass Produzenten sie bei künftigen Projekten im Hinterkopf haben werden.

Baye verkörpert in „Juste La Fin Du Monde“ eine Mutter, deren Sohn die Familie nach zwölf Jahren erstmals wieder besucht. Louis ist inzwischen eine Berühmtheit, aber auch final an Aids erkrankt. In die Heimat reiste er, um den Verwandten dies mitzuteilen, doch dazu kommt es nicht, weil alle über sich selbst reden und vor allem miteinander streiten, aber niemand nach Louis’ Situation fragt. In einer großartigen Ansprache bündelt Nathalie Baye als Mutter alle Liebe, Sorge und Enttäuschung über Louis, der sich seiner familiären Verantwortung völlig entzogen hat. Der Wettbewerbsbeitrag des frankokanadischen Regie-Stars Xavier Dolan ist aber auch eines der nicht wenigen Beispiele für eine unseligere Über-Inszenierung: Multiple Großaufnahmen konkurrieren mit dem bei Dolan gewohnt flashigen Soundtrack in einem Psychodrama, in dem so exzessiv geschrien wird, dass der Berichterstatterin nach dem Abspann selbst, quasi stellvertretend, zwanzig Minuten lang die Stimme wegblieb.

Apropos Überinszenierung: Damit hatte Nicolas Winding Refn noch nie ein Problem. Sein hochgradig stilisiertes, modernes Horrormärchen „The Neon Demon“ führt in die Welt der Models in Los Angeles. Hier eskalieren Eifersucht, Neid und härteste Konkurrenz, als eine junge Schönheit (Elle Fanning) vom Lande sofort Erfolg hat in der Szene. Winding Refn geriert sich gern als Tabu-Brecher, und so gibt es in seinem neuen Film denn auch Sex mit Leichen, Kannibalismus und viele kranke Fantasien. Wie öde ist das doch, wo alle Tabus längst gebrochen sind und es nicht nur spannender, sondern auch anregender wäre, über Grenzsetzungen zu reflektieren.

Überlange Filme

Apropos Überinszenierung, Teil 2: Cannes 2016 war auch ein Festival der überlangen Filme, quasi „Director’s Uncut“. Neben den hier in den vergangenen zehn Tagen vorgestellten Regiearbeiten bot der Südkoreaner Park Chan-Wook 160 Minuten erlesene Schönheit mit seinem Erotikthriller „The Handmaiden“. Inkohärentes Erzählen wurde gewagt und mitunter ausgebuht, etwa im Fall von Olivier Assayas’ „Personal Shopper“. Man erhielt Einblicke in systemische Korruption, nicht nur bei Brillante Mendoza. Auch Cristian Mungiu zeigt ein Land, das – um die Formulierung seines Helden zu gebrauchen – vom Krebs befallen ist. Der rumänische Regisseur hat 2007 die Goldene Palme für das Drama „4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage“ gewonnen, das im Ceausescu-Rumänien der 1980er spielt. „Graduation“ führt nun in die Gegenwart des Landes und thematisiert die Stagnation und Enttäuschung nach der Hoffnung auf Veränderung Anfang der 1990er, eine so bittere wie eindringliche Bilanz. Ein Anwärter auf die Palme d’Or ist der Film aber nicht.

Ebenso wenig wie Sean Penns neue Regiearbeit: „The Last Face“ erzählt von einer Liebe zwischen zwei Ärzten (Charlize Theron, Javier Bardem), die in den afrikanischen Kriegsgebieten für eine humanitäre Organisation arbeiten. Der Film könnte auch „Sexy in Dschungel und Savanne“ heißen, beutet er doch das Drama des permanenten Kriegs im Ton fortwährender Erhabenheit und Phrasendrescherei aus. Noch stehen zwei Filme aus im Wettbewerb, Asghar Farhadis „Forushande“ und „Elle“ von Paul Verhoeven. Erst am Sonntagabend werden die Hauptpreise in Cannes vergeben. Doch ein Gefühl macht sich breit, als ob die Goldene Palme längst feststeht für die Jury unter George Miller.