Ewig singen die Witwen: Musical «Linie 1» wird 30

Berlin - Touristen und Schüler auf Klassenfahrt wissen: New York hat den Broadway, Berlin das Grips Theater. Das Musical «Linie 1» gehört zur Stadt wie Döner und Gedächtniskirche.
«Fahr mal wieder U-Bahn, schau' dir mal die Menschen an»: Das Publikum summt seit 30 Jahren verlässlich mit. Heute schwingt eine gehörige Portion Westalgie mit. Im Stück steht die Mauer noch, es wird berlinert wie zu Harald Juhnkes Zeiten. So passé wie West-Berlin ist die «Linie 1» aber nicht.
Am Samstag (30. April) wird das Jubiläum gefeiert, natürlich mit den Punks, Pennern und den berühmten Wilmersdorfer Witwen. «Linie 1» war über Jahre das meistinszenierte deutsche Musical. Allein in Berlin haben es mehr als 600 000 Zuschauer gesehen. Mehr als 150 deutschsprachige Theater spielten es nach, auch weltweit war das Stück sensationell erfolgreich. Sogar in Südkorea fuhr die «Seoul Line 1». Aus den Wilmersdorfer Witwen wurden dort die Witwen von Militärbonzen.
Der Theatergründer und Autor Volker Ludwig (78) macht die U-Bahn zum Mikrokosmos. Schauplatz ist die «U1» zwischen Bahnhof Zoo, Wittenbergplatz - der Haltestelle für das Luxuskaufhaus KaDeWe - und dem Schlesischen Tor in Kreuzberg, damals der Endstopp vor der Grenze. West-Berlin ist im Stück die «einzige Stadt, wo in allen Richtungen Osten ist».
Die Geschichte (Regie: Wolfgang Kolneder) ist einfach. Ein Mädchen aus Westdeutschland sucht seinen Märchenprinzen und trifft jede Menge schräge und rotzige Typen. Dazu spielt seit 30 Jahren dieselbe Rockband die Musik von Birger Heymann. Die «Frankfurter Rundschau» schrieb einmal, Ludwigs musikalische Revue gehöre «zum Besten, was das westberliner Biotop aus Provinz und Weltstadt, Insel-Stolz und achtundsechziger Hoffnung je hervorgebracht hat».
Nach 1989 und mit dem Euro war «Linie 1» in der Bredouille. Sollten die Mauer und Sätze wie «Haste mal 'ne Mark» gestrichen werden? Besser nicht. Seit 2004 wird wieder die Originalfassung von 1986 gespielt. Die Menschen in der U-Bahn lasen damals noch viel mehr Zeitung und hingen nicht am Handy so wie heute.
Aber vieles klingt immer noch aktuell. «Sind wir noch in Berlin oder Kleinasien?», motzt eine Frau in Richtung eines türkischen Paares. Auch dass man in der U-Bahn einiges mithört, das man lieber nicht wissen will, etwa über Verdauungsprobleme: Das hat Ludwig gut eingefangen.
Ein Besuch der 1720. Vorstellung: Können auch die Jüngeren noch etwas damit anfangen? Aber ja, sagt eine Gruppe von jungen Erziehern aus Nordrhein-Westfalen. Solche Typen wie im Stück gebe es immer noch. «Es hat sich zu dem Thema nichts geändert», sagt Jens Winkelmann (21). Auch eine Gruppe von Mädchen, zu einem Sportfest in Berlin, nickt auf die Frage, ob es ihnen gefällt.
Das Bühnenbild kommt mit recht einfachen Mitteln aus, für die U-Bahn braucht es nur zwei rollende Bänke. Mit drei Stunden mag die Inszenierung für manche etwas lang sein. Aber am Ende trampelt das Publikum vor Begeisterung mit den Füßen.
Verlässlicher Höhepunkt: der Auftritt der ewiggestrigen Wilmersdorfer Witwen ganz in Schwarz, gespielt von Männern. Sie flöten, dass niemand «das mit den Juden» gewusst und es ja auch sehr viel Positives im Dritten Reich gegeben habe. Das ist sehr viel Deutschland in ein paar Minuten. Da wird die «Linie 1» zu mehr als einem Theaterstück aus einer einst geteilten Stadt. Die Wilmersdorfer Witwen haben sogar einen eigenen Wikipedia-Eintrag. Eine Witwe ist schon seit 30 Jahren dabei: Dietrich Lehmann («Agathe») hat noch keine Vorstellung verpasst. (dpa)