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«Eugen Onegin»: Rolando Villazón in Zeitlupe

03.10.2008, 12:58

Berlin/dpa. - Rolando Villazón sah ziemlich erleichtert aus. Kaum war «Eugen Onegin» an Berlins Staatsoper verklungen, da hüpfte der Mexikaner schon über die Bühne, fuchtelte umher und riss Grimassen.

Die Ausgelassenheit war durchaus nachzuempfinden: Fast drei Stunden musste sich der Startenor in Achim Freyers Inszenierung im Zeitlupen-Tempo bewegen, eine imaginäre Linie auf der schrägen Bühne abschreiten und Gefühlsregungen auf Minustemperatur halten. Die Fans kamen dennoch auf ihre Kosten, auch wenn Villazóns leichtgewichtige Belcanto-Stimme nicht so ganz in das russische Fach passt.

Villazóns erster Auftritt in Berlin nach der Zwangspause zu Jahresbeginn wurde vom Premierenpublikum stürmisch gefeiert. Zuletzt war Villazón mit Anna Netrebko 2007 in «Manon» in der Lindenoper aufgetreten. Mit Chefdirigent Daniel Barenboim startete die von den Querelen um ihre Sanierung gebeutelte Staatsoper nun mit einem großen Erfolg in die neue Saison. Auch Kanzlerin Angela Merkel spendete Applaus.

Die «Onegin»-Produktion war ein Erbe des abwesenden Peter Mussbach. Der Ex-Intendant hatte das Haus im Streit mit Barenboim und dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) vor einigen Monaten verlassen. Doch davor holte er noch den spielfreudigen Freyer an die Lindenoper.

Der Bühnenbildner, Maler und Brecht-Meisterschüler, der zur Zeit für die Oper in Los Angeles Richard Wagners «Ring des Nibelungen» vorbereitet, war für Luc Bondy eingesprungen. Er habe sich für Peter Tschaikowsky nie interessiert, berichtete Freyer vor der Premiere. Zu konventionell sei ihm die ganze Geschichte aus dem 19. Jahrhundert um Liebe, Ehre und Verrat. Als er dann die Musik hörte, habe er Abbitte leisten müssen. «Einen leichtfüßigen Traum» hörte er aus dem 1879 uraufgeführten Meisterwerk heraus.

Tatsächlich verharrt Freyers «Onegin» an der Staatsoper im Trance-Zustand. In millimetergenauer Arbeit dekonstruiert der 74-Jährige alle Bewegungen. Den Darstellern weist er exakte Bahnen zu, schränkt ihren Aktionsradius auf nur wenige Schritte ein. Chor und Solisten bewegen sich im Fluss der Musik wie Marionetten. Ganz in weiß verbergen sich die Gesichter hinter dick aufgetragenen Masken, die Augen sehen wie schwarze Knöpfe aus.

«Petersburg ist überall» behauptet Freyer und lässt die dramaturgisch nur lose verbunden Fragmente in einem Niemandsland spielen, das Dubai oder Berlin sein könnte. Das Liebesdrama um Tatjana (Anna Samuil) und Lenski mag vieles sein, die immer wieder bemühte «russische Seele» werden Onegin-Fans vermissen. Für Gefühligkeit ist Freyer nicht zu haben. Manche Zuschauer riefen bereits zur Hälfte des Premierenabends ihren Frust gegen das «langweilige Theater» in den Saal.

Statt feudalem Landhaus gibt es eine kahle Bühne, im Ballsaal glänzt höchstens der spiegelglatte schwarze Boden. Die Kostümbildnerinnen Lena Lukjanova und Amanda Freyer haben die ganze Gesellschaft in schmutzig-graue Anzüge gesteckt ­ Pailletten und Prunk: Fehlanzeige.

Die Figuren bewegt Freyer wie auf einem großen Brettspiel. Auf ihren Strecken blicken sie sich nicht einmal an. Selbst in Lenskis berühmter Arie darf Villazón nicht aus der Reihe tanzen, schaut in den dunklen Saal, statt zu seiner Angebeteten. Mutter Larina (Katharina Kammerloher) verschränkt die Arme vor der Brust und bewegt sie als wäre es eine Dehnungsübung, der Hauptmann (Fernando Javier Radó) salutiert immer wieder als Grüßautomat. Wie eine Welle bewegt sich der Chor im Fluss der Musik, mal links, mal rechts.

Dieses Schattenkabinett strahlt tatsächlich eine gewisse Monotonie aus ­ bis deutlich wird, wie sehr das surreale Ballett der Musik verpflichtet ist. Freyer unterwirft sich ganz Barenboims Orchester und erzeugt damit eine verblüffende Empathie zwischen Bühne und Graben, die beim Regietheater eher Seltenheit ist. So fühlen sich die Sänger in ihren Rollen sicher: Der leise disponierte Villazón kann sich als Mischung aus Tölpel und Liebesopfer entfalten, Roman Trekel verleiht Lanski-Gegenspieler Onegin eine erschütternde Autorität, an der er dann zerbricht. Nur Tatjanas Schwester Olga (Maria Gortsevskaja) bleit eher blass im Hintergrund.

Doch es sind zwei Randfiguren, die hier im Mittelpunkt stehen: Margarita Nekrasova, die als Amme Filipjewna in die Tiefe des Seelendramas vordringt, und René Pape in der Rolle von Fürst Gremin. Mit seinem markerschütterndem Bass wird der Abend schließlich doch noch zum großen Opernerlebnis.