Erstes Solokonzert von Keith Jarrett nach 15 Jahren
Frankfurt/Main/dpa. - Er macht es seinen Verehrern wahrlich nicht leicht: Bei seinem ersten Solo-Konzert in Deutschland seit 15 Jahren maßregelt Keith Jarrett sein Publikum und beschenkt es zugleich. Knapp zwei Stunden improvisierte der legendäre Jazz-Pianist am Sonntagabend vor mehr als 2400 andächtig lauschenden Zuhörern in der Frankfurter Alten Oper und ließ sich danach sogar vier Zugaben abtrotzen - ein kleines Wunder, wenn man bedenkt, wie dieser Abend begann.
Kaum zehn Minuten sitzt der 62-Jährige an seinem schwarzen Flügel, als ein Mann hustet, dann noch einer, beim dritten bricht Jarrett mitten im Stück ab. Er hebt die Hände von den Tasten und setzt zu einer seiner gefürchteten Tiraden an. «Wenn Sie husten müssen, warte ich draußen», ruft er und deutet zur Bühnentür, «wo ist das Erziehungssystem geblieben?» und bietet an, er könne auch Musik klimpern wie ein Alleinunterhalter im Hotel: «Das ist gut genug.»
Immerhin verwendet er keine F- und A-Wörter wie im italienischen Perugia, wo er im Sommer dieses Jahres für einen mittleren Skandal sorgte, als es tatsächlich jemand wagte, zu fotografieren. In Frankfurt traut sich das Publikum aus Angst, Jarrett könnte das lang ersehnte Konzert platzen lassen, kaum zu atmen. Dennoch unterbricht er vor der Pause mehrfach mitten im Spiel und erklärt den Unterschied zwischen der lauten und hektischen Welt «da draußen» und der Stille und Konzentration «hier drin».
«Er benimmt sich, als wäre es eine Gnade, ihm zuzuhören», schnaubt ein Zuhörer in der Pause, worauf sein Begleiter sagt: «Ja, aber dummerweise hat er Recht.» Tatsächlich erschafft Jarrett frei improvisierend Musik von fast übernatürlicher Schönheit. Der laut Kritikern «gebildetste, virtuoseste, kreativste, fantasievollste (...) Pianist der Gegenwart» hat die gesamte Musikgeschichte aufgesogen. Nicht nur alle Facetten des Jazz, auch Bach und Schostakowitsch, Minimal Music und Zwölftonmusik sind die Wurzeln dieser Musik-Blüten.
Wenn er alleine am Klavier sitzt, ist das Spektrum weiter als bei den Konzerten im Trio, mit dem Jarrett in Deutschland zuletzt im Juli in Essen zu hören war. Während er spielt, glaubt man fast, was er selbst im aktuellen «Spiegel» behauptet: dass 99 Prozent aller Musik schlecht sei und er selbstverständlich zu dem einen Prozent gehöre.
Als Jarrett 1975 das legendäre «Köln Concert» aufnahm, das meistverkaufte Soloalbum der Jazz-Geschichte, dauerten seine Improvisationen teilweise eine halbe Stunde. Seit ihm in den 90er Jahren ein chronischer Erschöpfungszustand das Spielen unmöglich machte und eine jahrelange Konzertpause erzwang, sind die Stücke kürzer geworden. Wenn ihm der Anfang misslingt, unterbricht er sich: «Das hat mir nicht gefallen», sagt er einmal, «jetzt können Sie husten».
Manche seiner Miniaturen spielt er wie in Trance. Dann erhebt sich sein Hintern vom Klavierstuhl, mit gebeugtem Rücken kriecht er in die Tastatur hinein, er brummt, faucht, grunzt und stöhnt. Ein Kampf zwischen Mensch und Klavier - und natürlich alles andere als die andächtige Stille und Reglosigkeit, die er von seinem Publikum einfordert. Wenn mit dem letzten Ton der begeisterte Applaus einsetzt, wird Jarrett wieder steif. Wie ein Roboter greift er mit der linken Hand zum Wasserglas, trinkt exakt einen Schluck, stellt das Glas ab, dreht sich zum Publikum und verbeugt sich wie eine Marionette mit steif herabhängenden Armen.
Über ihm baumeln die Mikrofone, mit deren Hilfe dieses Konzert sich vielleicht einreihen wird in die Liste seiner zwei Dutzend Solo- Einspielungen. Erst drei Einzelabende sind seit Jarretts Zusammenbruch veröffentlicht worden, aufgenommen bei Konzerten in Japan und New York. Welches der drei Solo-Konzerte dieses Herbstes das Rennen macht, ob Mailand, Budapest oder Frankfurt, bleibt abzuwarten. Die Alte Oper hat jedenfalls dank ein paar Erkälteten gute Chancen - im Programmheft gesteht Jarrett, dass er gerade dann besonders gut spiele, wenn er müde sei oder wütend.