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Erinnerung an Hans Natonek Erinnerung an Hans Natonek: Biografie über fast vergessenen Feuilletonisten

Von kai agthe 06.12.2013, 10:00
Hans Natonek, Leipzig 1930
Hans Natonek, Leipzig 1930 lehmstedt verlag Lizenz

halle (Saale)/MZ - Vor genau 100 Jahren, im Dezember 1913, teilt Hans Natonek Freunden und Geschäftspartnern seine neue Adresse mit: Merseburger Straße 5 in Halle an der Saale. Der junge Mann, der 1892 bei Prag geboren wurde, in Wien studiert und sich anschließend in Berlin umgetan hatte, kam nach Halle, um ein Volontariat bei der „Saale-Zeitung“ anzutreten.

Hier schrieb er vor allem über lokale Ereignisse, zu denen an besseren Tagen Motorradrennen oder Vorträge über Südpol-Expeditionen gehörten. Sein Aufenthalt in Halle blieb ein dreijähriges Intermezzo, weil für ihn hier journalistisch wenig zu holen war. Seine publizistische Heimat fand Natonek in Leipzig, wo er in wenigen Jahren zum Feuilletonchef der linksliberalen „Neuen Leipziger Zeitung“ (NLZ) aufstieg.

Auf dem Höhepunkt seiner Karriere war der Tscheche – der 1928 die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt – einer der wichtigsten Feuilletonisten der Weimarer Republik. Mit großer Tiefgründigkeit und ebensolcher Leichtigkeit schrieb Natonek über alles, was kulturell und gesellschaftlich von Bedeutung war. Offiziell bei der NLZ bestallt, erschienen seine Artikel auch in anderen in- und ausländischen Printmedien. Diese Texte lesend, fühlt man sich an Autorenkollegen wie Alfred Polgar und Siegfried Kracauer erinnert.

Auch Karl Kraus und Joseph Roth kommen dem Leser in den Sinn. Letzteren schätzte Natonek so sehr, dass er dessen „Radetzkymarsch“ als einen der wichtigsten Romane seiner Zeit pries. Beide sollten sich wenige Jahre später in Paris begegnen: Wie Roth, der galizische Jude, musste Natonek, der tschechische Jude mit christlicher Konfession und deutschem Pass, nach der Machtergreifung aus Deutschland fliehen, um nicht Opfer des Rassenhasses der Nationalsozialisten zu werden.

Wie Kraus verstand Natonek, spätestens seit Hitlers Machtübernahme, Zeit- als Sprachkritik. Über einen Auftritt des Diktators notierte er 1939: „Wir sind im Reich der dunklen Magien und der Fetische, und man könnte bei der Übersetzung einer Hitler-Rede ebenso gut einen Psychoanalytiker zuziehen.“

Polgar und Kracauer, Kraus und Roth sind inzwischen wiederentdeckt und ihre Werke in soliden Ausgaben zugänglich. Natonek hingegen stand deutlich länger im Abseits. Abgesehen von einzelnen Wiederveröffentlichungen in den 1980er Jahren, ist der Autor erst seit 2006 dank des unermüdlichen Einsatzes von Steffi Böttger wirklich präsent. Die Leipziger Schauspielerin und Autorin ist derzeit die wohl beste Natonek-Kennerin.

Anlässlich des 50. Todestages des Autors am 23. Oktober erschienen im Leipziger Lehmstedt Verlag zwei Veröffentlichungen, an denen Böttger beteiligt ist: Sie hat jüngst einen zweiten Band mit Feuilletons herausgegeben: „Letzter Tag in Europa – Publizistik 1933 bis 1963“. Parallel dazu legte sie die Biografie „Für immer fremd“ vor.

Steffi Böttgers auf knapp 200 Druckseiten verdichtetes und doch so detailliertes und kenntnisreiches Lebensbild ist auch ein Porträt Leipzigs. Das Pleiße-Athen der zwanziger und frühen dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts ersteht vor dem geistigen Auge des Lesers in all seiner Farbigkeit wieder auf. Das war zwar kein Berlin, aber zwischen den Weltkriegen eine sehr bunte und pulsierende Stadt, deren geballte Vitalität im Wort einzufangen Natonek stets den gespitzten Bleistift parat hatte.

Das Jahr 1933 markiert, wenn schon nicht das Ende, so doch die entscheidende Zäsur in Natoneks bis dahin so reichem feuilletonistischen Schaffen. Die Entlassung und die zu befürchtende rassische Verfolgung führte bei Natonek – der sich 1918 in Leipzig evangelisch hatte taufen lassen – zu dem Entschluss, Deutschland zu verlassen. Gertrud Natonek, von der sich der Journalist 1934 wegen einer jüngeren Frau hatte scheiden lassen, schwärzte ihren Ex-Ehemann aus gekränkter Eitelkeit bei den Nazis an. Die beiden Kinder blieben bei der Mutter. Erst nach dem Ende des Dritten Reichs konnte er mit Sohn Wolfgang und Tochter Susanne wieder in Kontakt treten.

Über Berlin, Hamburg und seine Vaterstadt Prag flüchtete er nach Paris und von dort auf höchst abenteuerlichen Wegen bis nach Portugal, wo er nach bürokratischem Gezerre, das Böttger genau rekonstruiert, einen Platz auf einem Schiff nach New York ergatterte.

Als Natonek die Arche Noah, die ihn ins gelobte Land bringen würde, betrat, musste er – wie er sich 1941 im Text „Letzter Tag in Europa“ (der dem zweiten Band mit Publizistik den Titel lieh) erinnerte – „an diesen europäischen Marathonläufer denken, der am Ziel zusammenbrach“. Wie dieser, so war auch Natonek, als er sich nach Jahren der Flucht durch halb Europa gerettet wusste, physisch am Ende: „Fast alle von uns haben eine Art von Konzentrationslager-Komplex. Die Furcht und das Gehetzte ist immer noch in unseren Augen“, erklärte er, ebenfalls 1941, in dem Feuilletonstück „Der erste Tag“.

Dreißig Jahre ohne Unterlass schreibend, konnte der Journalist und Schriftsteller, fern der Heimat und der Muttersprache, nicht mehr an die für ihn fraglos goldenen zwanziger Jahren anknüpfen, in denen er in der üppig blühenden Presselandschaft eine Edelfeder des deutschen Feuilletons war.

Für Emigranten war New York das Zentrum in den Staaten, wenn es darum ging, Netzwerke für das Überleben zu knüpfen. Aber nach nur drei Jahren in „Big Apple“, wo sich Natonek von den Kreisen deutscher Exilanten fernhielt, wählte er 1944 Tucson (Arizona) als endgültiges Domizil: Jene Stadt im Südwesten an der Grenze zu Mexiko, die bis heute nicht in dem Ruf steht, ein geistiges Zentrum der Vereinigten Staaten zu sein.

In die Wüste Arizonas ging der Autor wegen einer Frau: der Tänzerin Anna Grünewald. Mit ihr ging der Frauenschwarm, der die Damen, aber auch die Bücher liebte, die dritte Ehe ein. „Ich weiß nicht, was schlimmer ist: ohne eigene Bücher zu leben oder ohne eigene Frau, wenn man beides einmal besaß“, heißt es in einem feuilletonistischen Bekenntnis von 1941.

Steffi Böttger: Für immer fremd. Das Leben des jüdischen Schriftstellers Hans Natonek, 19,90 Euro.

Hans Natonek: Letzter Tag in Europa. Gesammelte Publizistik 1933 bis 1963. Hrsg. von Steffi Böttger, 24,90 Euro.

Beide erschienen im Lehmstedt Verlag, Leipzig 2013.

Das pulsierende Leipzig war Natoneks feuilletonistische Bühne.
Das pulsierende Leipzig war Natoneks feuilletonistische Bühne.
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