Eric-Emmanuel Schmitt Eric-Emmanuel Schmitt: Oskar schreibt an den lieben Gott
Halle/MZ. - Eric-Emmanuel Schmitt erzählt vom Sterben und regt Nachdenken über Fragen an, die das Leben aufwirft. Sein Held, der zehnjährige Oskar, liegt mit Leukämie in einer Kinderklinik, und alle wissen, dass er sterben wird. Auch Oskar weiß es. Er hat es herausgefunden, weil er die Hilflosigkeit der Erwachsenen spürt.
Sie wechseln das Thema, wenn das Wort "sterben" fällt. Der Doktor untersucht ihn nicht mehr "mit ganzem Herzen", die Eltern verlassen die Klinik nach einem Gespräch mit dem Mediziner, ohne ihren Jungen zu besuchen. Und niemand lacht mehr so wie früher mit ihm, weil das Verhalten des Arztes und der Eltern "ansteckend" ist.
Das alles belastet den todkranken Jungen zusätzlich: Das Schweigen des Arztes weckt in ihm Schuldgefühle, weil er meint, ein schlechter Patient zu sein: "ein Kranker, der einem den Glauben nimmt, dass die Medizin etwas ganz Tolles ist." Das der Eltern provoziert die quälende Frage, ob sie ihr Kind nur lieben können, wenn es gesund ist. Oskars letzte Tage wären voller Ängste, Einsamkeit und Verzweiflung, gäbe es nicht die alte Frau im rosa Kittel, eine ehrenamtliche Helferin der Klinik, die sich um ihn kümmert. Sie hat Falten wie Sonnenstrahlen um die Augen, weiß ermutigende Geschichten aus der Zeit, da sie angeblich als Catcherin 160 von 165 Kämpfen gewann. Sie nimmt Oskar ernst und ist aufrichtig zu ihm. Sie schenkt ihm ein ganzes Leben, indem sie ihn ermuntert, jeden Tag wie zehn Jahre anzusehen. Darüber hinaus regt sie ihn an, Briefe an den lieben Gott zu schreiben.
Diese Briefe, 13 insgesamt, und einer, den die "Dame in Rosa" geschrieben hat, machen die Erzählung aus. Sie schildern Oskars Erlebnisse in der Klinik, stellen seine Freunde vor, sprechen von Erwartungen und Wünschen des Jungen, offenbaren das Fortschreiten seiner Krankheit.
So viele Themen sie auch berühren, im Grunde sprechen sie immer von einem: Davon, dass es ohne Aufrichtigkeit gegen sich selbst und gegen andere ein ausgefülltes Leben nicht gibt. Hätte Oskar seine letzten Lebenstage so intensiv erfahren können wie ein langes Menschenleben, hätten er und die "Dame in Rosa" nicht den Mut zur Wahrheit gehabt? Leser, denen Oskars Briefe zu tiefgründig für einen Zehnjährigen erscheinen, seien an Elisabeth Kübler-Ross erinnert, die Tausende sterbende Mädchen und Jungen begleitet hat. Sie beobachtet, "dass Kinder in den Tagen vor dem Tode eine geistige Reife erreichen, die sie den Erwachsenen überlegen macht". Und dass "Kinder viel ehrlicher sind und genau merken, wenn Erwachsene eine Rolle spielen".
Es sind viele Vorzüge, die den Wert von Schmitts Erzählung ausmachen: Es ist ihm gelungen, sich ganz in die Welt und in die Situation seines Helden einzufühlen. Er hat sein schwieriges Thema neben Fantasie auch - was durchaus angemessen ist - mit Humor gemeistert. Und mit Feingefühl. Dafür spricht nicht zuletzt der Brief der "Dame in Rosa", die durch die Begegnung mit Oskar reicher geworden ist. Alles in allem mahnt Schmitt so unaufdringlich wie überzeugend, Gedanken an den Tod nicht aus dem Leben zu verbannen.