Edgar Hilsenrath Edgar Hilsenrath: Mit dem Zug aus Halle verließ er seine Kindheit
Halle (Saale)/MZ. - Bilder, die bleiben. Bilder aus Halle. Szenen, die eingebrannt sind auf der Netzhaut. Wie er da selbst, Edgar Hilsenrath, Sohn eines deutsch-jüdischen Möbelhändlers, als Grundschüler in einem Trupp von Pimpfen über den Schulhof marschieren muss. So wie vor diesem Trupp die Hitlerjungen vom Gymnasium, die stampfen und singen: "...bis das Judenblut vom Messer spritzt..." Nur Edgar, das Kind, singt nicht mit. Presst die Lippen zusammen. "Wie ein alter Wolf, der nicht zeigen will, wie schlecht seine Zähne sind", wird er Jahrzehnte später schreiben.
Oder wie Edgar 1938 mit seiner Familie schließlich von Halle weg und aus Deutschland fliehen muss. Zwölf Jahre alt ist der Junge, der vom Zug aus seine Freundin Gertrud auf dem Bahnsteig entdeckt. Die will wissen, wohin er denn fahre. Nach Berlin, antwortet Edgar. Nimmst du mich mit?, will Gertrud wissen. Nein. Warum? "Weil ich zuerst nach Rumänien fahre zu meinem Opa und meiner Oma. Und dann nach Paris. Und später über Amerika zurück nach Paris." Gertrud: "Warum so umständlich?" Edgar: "Das weiß ich nicht!"
Nazi und Friseur
Wir wissen es heute. Nicht zuletzt aus den Büchern von Edgar Hilsenrath. Aus Büchern, die in der zehnbändigen Werkausgabe des Berliner Dittrich Verlages vorliegen. Erfolgreiche Titel wie "Der Nazi & der Friseur", "Die Abenteuer des Ruben Jablonski" oder "Das Märchen vom letzten Gedanken". Hilsenraths bekanntestes Werk aber ist bis heute die 1968 in Amerika verfasste Groteske "Der Nazi & der Friseur". Die Geschichte des SS-Oberscharführers Max Schulz, der die Identität seines Opfers Itzig Finkelstein annimmt, um als Friseur in Israel über die Runden zu kommen. Ein Buch, das dem Autor von den deutschen Kollegen den Vorwurf des Antisemitismus eintrug. Erst als Heinrich Böll das Buch lobte, erkannten die Kollegen dieses Werk und das Können seines Autors.
Der wurde in Leipzig geboren, aber recht eigentlich ist er ein Hallenser: 1928 kam das Kind in die Stadt, das es zehn Jahre darauf verlassen sollte. Die Hilsenraths lebten in der Bernburger Straße 30, das vom Vater betriebene Möbelhaus stand in der Großen Ulrichstraße. Näheres ist nachzulesen in der von Helmut Braun verfassten Biografie "Ich bin nicht Ranek. Annäherung an Edgar Hilsenrath" (Dittrich Verlag 2006). Braun zeigt die Stationen des Überlebens: die Ukraine und Israel, Frankreich und Amerika, von dort aus ging es 1975 zurück nach Deutschland. Hin nach Westberlin, wo Edgar Hilsenrath noch heute lebt.
Werkausgabe ohne Autor
Anfang 2008 besuchte er ein letztes Mal Halle. Eine Lesung in der überfüllten Galerie am Domplatz, präsentiert vom Verleger Volker Dittrich. Der Autor: ein kleiner, schwarzgekleideter Herr mit grauweißem Schnurrbart und Baskenmütze. Wenige Monate darauf hat Hilsenrath noch einmal geheiratet - und sich von seinem Verleger getrennt. Das frisch vermählte Paar, teilt Volker Dittrich mit, habe den Autorenvertrag korrigieren wollen: mit schlechteren Konditionen für den Verleger. Es kam zum Vergleich. Seitdem führt Dittrich eine Werkausgabe, zu deren Verfasser er keinen Kontakt mehr hat. Auch wenn Edgar Hilsenrath kein Star des Literaturbetriebs ist, ist er doch der Letzte einer großen Tradition deutsch-jüdischer Erzähler. Einer, der nicht allein mit "Der Nazi & der Friseur" Weltliteratur geschrieben hat. Ein Erzähler aus Halle. Am Samstag wird er 85 Jahre alt.