Dresden Dresden: Anarchisten des Balletts

Dresden/dpa. - Das 1911 entstandene Festspielhaus Hellerau inDresden ist sowohl Stein gewordene Vorwegnahme dieses Stils als auchdie Wiege einer anderen Moderne - der des Tanzes. Emile Jaques-Dalcroze und später Mary Wigman formten hier die Rhythmik zummodernen Ausdruckstanz. Diese Linie hat sich bis heute fortgesetzt.Neuerdings steht der Name des Choreografen William Forsythe dafür.
Doch daneben - und nicht etwa im Schatten von Forsythe - spielteine russische Compagnie in Dresden schon seit zehn Jahren eineRolle. «Derevo», eine internationale Gruppe um den Russen AntonAdassinsky, hat eine Symbiose aus Tanz und Theater geschaffen, dieihresgleichen sucht. Mit ihren Darstellungen verändert sie dasbekannte Bild des Tanzes immerfort.
Eine Proben-Stippvisite belegt vollen Körpereinsatz. Die Künstlerhaben sich mit weißer Farbe übergossen. Auf der Bühne ist Strohverstreut, eine Tänzerin verbirgt sich unter dem Heu. Ein schwarzgekleideter Gnom gibt den Narren, hantiert mit einem Seil, das erseinem König um den Hals legt. Eindringliche Bilder der Produktion«Wheel of Power» für die anstehende 400-Jahr-Feier Mannheims.
«Derevo» spielt Bilder, die den Betrachter ins Mark treffen. Dasmacht Inszenierungen wie «Once», «Ketzal» oder «La Divina Commedia» -allesamt international preisgekrönt - so unverwechselbar. Es ist dereigene Stil der 1988 gegründeten Compagnie, die ihren Platz inHellerau gefunden zu haben scheint. Das zeigt sich, wenn der 1959 imsibirischen Krasnojarsk geborene Adassinsky von der Bedeutung des«Grünen Hügels der Moderne» spricht. «Dieser Ort hat allein durchseine Geschichte unheimlich viel Energie», sagt er ohne Pathos.
«Es ist im Vergleich zu tausenden anderen Künstlern eine Traum-Situation», erklärt Adassinsky. Am Europäischen Zentrum der KünsteHellerau (EZKH) sind sie nun daheim. Vorher war «Derevo» (Russisch:Baum) in einem heruntergekommenen Fabrikgebäude einer Industriebrachezu Hause.
Adassinsky ist Asket und Avantgardist in Personalunion. Seinkahler Schädel wird dominiert von wachen Augen, die ständig inBewegung sind. «Bei uns geht es um Körpersprache, um physischeSprache», sagt der Künstler. Den Begriff Tanz meidet er, bei ihmheißt es «Anarcho-Dance». «Wir nutzen unsere Körper wie Werkzeuge,deshalb erscheinen sie so pur.»
Markenzeichen der Compagnie-Mitglieder sind neben ihren extremdrahtigen Körpern die rasierten Köpfe. Die Farbe, die sie für ihreKörper benutzen, scheint nochmals zu entpersonifizieren. Doch sielenkt die Blicke hin auf Gesten und Bewegungen. Das Theater erhält soeine neue Ursprünglichkeit. Dazu kommen einfachste Requisiten wieÄste, Stroh oder Steine.
«Selbst wenn wir nackt auftreten, reagiert das Publikum auf unsereKörper, aber nicht auf einer sexuellen Ebene.» Gebannt sind dieZuschauer überall: in Schottland, in Russland und Südkorea genausowie in Brasilien und der deutschen Wahlheimat. «Es geht uns darum,das physische Theater mit Seele zu verschmelzen», betont Adassinsky.Dort sollen die Inszenierungen wirken - weniger im Kopf, wie es dasherkömmliche Theater tut.
Hellerau-Intendant Udo Zimmermann weiß, was er an «Derevo» hat.Die Truppe trage den Namen Dresdens als Hort des modernen Tanzes indie Welt. Obwohl das Budget für das Kunstzentrum bisher von der Stadtnicht beschlossen ist, hat Zimmermann 50 000 Euro für die Compagnielocker gemacht - «für die künstlerische Entwicklung der Gruppe».Dresden müsse sich endlich positionieren, ob via Hellerau die Modernein der Stadt Einzug halten soll. Denn immer noch fehle nicht nur einEtat, sondern vor allem ein vorbehaltloses Ja zu Hellerau.