Dieter Mann Dieter Mann: "Am Ende isset Arbeit"

Halle (Saale) - Um 1950 entschloss sich der junge, später zu Weltruhm gelangte Schauspieler Ekkehard Schall von seinem ersten Engagement in Frankfurt an der Oder weg in die ostdeutsche Provinz zu bewerben. Für die großen Theater fehlte dem späteren Berliner-Ensemble-Star der Mut.
Und vielen mittleren Bühnen das Interesse. Im Stadttheater Zeitz wunderte man sich über den Größenwahn des 1930 geborenen Magdeburgers. Ein Mann von der Oder! Aus dem Zonenrandgebiet! Was denn, wurde Schall abgewiesen, und von da wollen Sie gleich nach Zeitz? „Ich ging in mein Hotelzimmer und weinte“, gab Schall später zu Protokoll. „Ich dachte wirklich, mich überschätzt zu haben mit Zeitz. Ich schämte mich meiner Anmaßung.“
Ochesntour übers Land
Man muss das erwähnen, erstens, um daran zu erinnern, dass Zeitz einmal eine ostdeutschlandweit bekannte Bühne besaß. Zweitens, um zu Dieter Mann hinzuführen, dem - was die Ausnahme unter Schauspielern war und ist - genau diese Ochsentour über Land erspart geblieben ist.
Mit seinem ersten Engagement landete der Arbeitersohn aus Berlin-Pankow 1964 am Deutschen Theater, einer der Vorzeigebühnen der DDR, einem Staatstheater, an dem er seine einzigartige Karriere beginnen sollte. „Manchmal habe ich tatsächlich bedauert, mich nicht in diesen sogenannten Provinzen ausprobiert zu haben“, sagt er heute. „Nicht, dass ich nach Zeitz wollte, aber um bei dieser Gleichnisstätte zu bleiben: Ich vergaß nie, dass es Städte solchen Namens gab.“
Und diese Städte haben Dieter Mann nicht vergessen, der vom Osten aus in die erste Liga der deutschen Schauspieler aufstieg. Der als Schauspielerintendant das Deutsche Theater von 1984 bis 1991 über den Zusammenbruch der DDR rettete, was nicht ganz selbstverständlich war: In Westberlin ist das Schillertheater verschwunden. Mann, der Distanzierte, Genaue, Unaufdringliche, einer der besten deutschen Sprechkünstler.
Der spielte große Rollen: Plenzdorfs Edgar Wibeau, Lessings Tempelherr, Goethes Clavigo, Shakespeares Ariel, den Odysseus des Botho Strauß. Auch ein Film- und Fernsehgesicht: „Ich war neunzehn“, „Auf der Suche nach Gatt“, „Glück im Hinterhaus“. Mit Soloprogrammen zu Goethe und Thomas Mann („Fülle des Wohllauts“) war Dieter Mann unterwegs.
Letzteres brachte diesen Wortwechsel eines Zuschauers mit der Frau des Schauspielers ein: „Ist Dieter Mann mit Thomas Mann verwandt?“ „Nein.“ „Wirklich kein bisschen?“ „Kein bisschen.“ „Also heißt er zufällig Mann?“ „Nein, zufällig nicht - schon seine Eltern hießen so...“
Den Wortwechsel bietet das Erinnerungsbuch des Schauspielers, das im Gespräch mit dem Journalisten Hans-Dieter Schütt entstand, des „Neues Deutschland“-Feuilletonisten, der bis 1989 Chef des FDJ-Blattes „Junge Welt“ gewesen war. Jahrelang, schreibt Mann, habe er sich mündlich und schriftlich gegen Schütts Buchpläne gewehrt, dessen zupackendes Ost-Promi-Interesse branchenbekannt ist.
Endlich habe er sich doch breitschlagen lassen. Warum? Weil er immer mehr Leute getroffen habe, „die mir vorschreiben wollten, wie ich gelebt haben soll.“ So ist das Gesprächswerk entstanden. Ein Theatergeschichtenbuch. Ein Theatergeschichtsbuch. Ein Buch mit einem klugen Titel: „Schöne Vorstellung“. Das meint beides: Idee und Alltag.
Mann will Schauspieler werden
Aus dem kommt der 1941 geborene Dieter Mann. Und aus der Armut. Der Vater Hilfsarbeiter, die Mutter Näherin. Die zwei Söhne hungern. Aus dem Kriegs-Berlin heraus werden sie in den Warthegau landverschickt, von wo aus sie im Treck 1945 in die zerstörte Stadt zurückkehren. Nie der Erste, nie der Letzte sein, erklärt der Vater dem Sohn, der nach der achten Klasse Dreher lernt.
Der holt das Abitur an der Arbeiter- und Bauernfalkultät (ABF) nach, die unweit des Berliner Ensembles steht. Dorthin geht Dieter Mann, um Ekkehard Schall zu sehen. Mann will Schauspieler werden, weil er ausbilden will, was ihm damals fehlte: Präsenz, Persönlichkeit.
Es geht dann ganz schnell. Schauspielschule, Deutsches Theater, von Wolfgang Heinz engagiert. Ein Kollege sagt dem Jungen: „Dieter, ab jetzt isset Arbeit“. In die kniet er sich hinein. Motto auf der Bühne: „stehen, denken, sagen, genau in der Reihenfolge“.
Mann ist der intelligente Schauspieler, der genau reflektiert werden will vom Regisseur. Zum Intendanten wird er aus innerbetrieblicher Not verpflichtet. Nach dem, was zu lesen ist, muss er ein sensationeller Chef gewesen sein: ein Ermöglicher, Beschützer, kein Abtaucher oder Konkurrent von oben. Er holt Heiner Müller und Castorf ans Haus, dessen Türen er im Herbst 1989 weit öffnet.
Autobiografie? Das Gespräch ist dann doch vor allem ein Theaterfachgespräch. Eine lange Kantinensitzung. Die Welt taucht selten auf. Auch kaum die Literatur. Was interessiert Mann an Goethe? Tucholsky? Wie lebt er? Schütt, der bei allem Kennertum gern einem Hang zu Kitsch und Predigt folgt, liefert zuweilen Stichworte, die nur redseliges Ornament sind. Politisch wird selten nachgehakt. Nicht in Sachen DDR-Gesellschaft. Nicht in Sachen Biermann, dessen Ausbürgerung für den SED-Genossen Mann hinnehmbar war. Der Leser folgt tendenziell einem Monolog. Und, ja, „am Ende isset Arbeit“.
2015 stand Dieter Mann, der an Parkinson erkrankt sein soll, das letzte Mal auf einer großen Bühne. Am 20. Juni wird er 75. „Einzig nur konzentriert leben.“ Das müsste man, sagt er an einer Stelle. Aber: „Wie soll einem das gelingen?“ (mz)
