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Die Unsichtbaren Die Unsichtbaren: Christian Baron erzählt von einer Kindheit in Armut

Von Christian Eger 12.02.2020, 10:00
Christian Baron, 35, Journalist in Berlin: „Wir kannten die besten Kinderbücher nur als Filme.“
Christian Baron, 35, Journalist in Berlin: „Wir kannten die besten Kinderbücher nur als Filme.“ Hans Scherhaufer

Halle (Saale) - Das einzige, was in dieser Familie wirklich läuft, ist der Fernseher. Disney und putzmuntere Gewalt für die Kinder. Horror und Starkpop für die Erwachsenen. Aus der Musikanlage schallen Freddy Mercury, die Kelly Family und für die wenigen Momente von Zugewandtheit Heintjes Weihnachtsschlager „Heidschibumbeidschi“.

Mehr Anregung und Unterhaltung sind für Christian, geboren 1985, und seine seine drei Geschwister nicht vorgesehen. Sie vermissen es auch nicht. Ihre Freizeit verbringen die Kinder eines in Kaiserslautern prekär beschäftigten Möbelpackers unter familiärem Verschluss, auf Trab gehalten von Nintendo und Nasenbluten. Bücher? Etwas für Schwuchteln, sagt der Vater, der seine Familie mit dem bei Laune hält, was bei Transportdiensten für die US-Armee „vom Laster gefallen“ ist. Im Haushalt des daueralkoholisierten, allseits gewaltbereiten Kleinkriminellen gilt nur ein Gesetz: Er selbst. Wenn er sich aufregt, sagt sein Sohn, „dürfen wir uns nicht mehr bewegen, nicht mehr sprechen, am besten nicht einmal mehr atmen.“

Zwei Jahrzehnte danach, atmet dieser Sohn durch - und er spricht. „Ein Mann seiner Klasse“ (Hier das Buch bei Amazon bestellen) heißt das von Christian Baron verfasste Buch, in dem der Redakteur der Berliner Wochenzeitung „der freitag“ seinen toten Vater und seine eigene Herkunft in den Blick nimmt. Baron, für den kein Abitur und kein Studium vorgesehen war, liefert einen als Roman deklarierten Selbstbericht aus dem Milieu einer stets sich selbst erneuernden Armut.

Scham, Schweigen, Zorn

Diese Erneuerung ist gesamtgesellschaftlich gewollt. Als „Unterschicht“ wird das Milieu administrativ auf Distanz gehalten. Als „asozial“ deklariert, was Unsinn ist. Die von Baron gezeigten Menschen mit den „über Generationen hinweg vererbten Sozialhilfekörpern“ haben ihre eigene Sozialität: autoritär, sentimental, abgeschottet und gewalttätig.

Niemand aus Barons Familie kam je über einen Hauptschulabschluss heraus, ein Berufsschulabschluss war nicht vorgesehen. Nach innen wird die soziale Härte umgeleitet, die von außen erduldet wird. Gesellschaftlich gehört die Familie zu den Unsichtbaren. Und sie tut viel, um unsichtbar zu bleiben. In der Schule stellen die Kinder keine Fragen. Sie suchen keinen Kontakt. Elternversammlungen werden nicht besucht. Wozu? Es gibt doch WhatsApp! Nachbarn überhören die häuslichen Ausbrüche von Gewalt.

Dabei war viel zu hören. Allnächtlich dringt es dumpf zu den Kindern, wenn der Vater den Kopf der Mutter gegen die Wand donnert. Schläge, nach denen die Uhr zu stellen wäre. So wie nach der Geldnot am Monatsende. Armut mit Stolz zu tragen, verlangt der Vater, der staatliche Stütze ablehnt. Wie Hunger in Hungern übergeht, auch das zeigt Baron, der den Schimmel von den Wohnungswänden kratzte, weil er den für einen essbaren Pilz hielt.

Dass Verfassen von belletristischen Ego-Dokumenten hat hierzulande Konjunktur, zuletzt befördert von dem französischen Report „Rückkehr nach Reims“, in dem der Soziologe Didier Eribon das neurechte Proletariat beschrieb, dem er selbst entstammt. Dass das Buch vor allem in Deutschland ein Bestseller wurde, verweist auf Defizite der innergesellschaftlichen Wahrnehmung. Aber Baron hütet sich vor den Verführungen zum mediengerechten Geschwätz: Er führt nicht vor, sondern er schildert. Er trumpft nicht auf. Er biedert sich nicht an, weder nach unten noch nach oben. Er nimmt sich Zeit für Genauigkeit. Und Empathie.

Auch für seinen Vater. Laut Baron „ein Mann, der kaum eine Wahl hatte, weil er wegen seines gewalttätigen Vaters und einer ihn nicht auffangenden Gesellschaft zu dem werden musste, der er nun einmal war.“ Dass Baron den scharfen Blick zurück aushält und hält, schon das ist eine große Leistung. Unaufdringlich macht er die Sozialmechanik des Selbst- und Fremdausschlusses seines Milieus sichtbar: das sich klein machen und klein gemacht werden. Scham, Schweigen und Zorn.

Dass Baron seiner Familie entkommen, ja, diese überleben konnte, verdankt er Menschen, die nicht den gesellschaftlichen Routinen folgten. Die dem Staat widersprachen, der dem Kind das Gymnasium verweigern wollte. Die ihm geistige Welten jenseits von Super Mario zeigten. Es sind vor allem Frauen, die hier als Fluchthelfer dienten. Und ein Lehrer, der dem Jungen klar machte, dass er es niemals allein schaffen würde, seine Träume zu verwirklichen. Niemals! Dass er immer Partner brauchen werde. Das war eine grundstürzende Neuigkeit in einer Welt, in der man sich auf sich selbst verlässt.

Gewalt von oben und unten

Kein Westbuch. Kein Ostbuch. Sondern ein Buch, das hinter

der parteipolitischen Realität Deutschlands dessen soziale Wirklichkeit zeigt. Ein Bericht über die Ausübung von gesellschaftlicher Gewalt, die von unten nach oben nicht aufhört, sondern die Formen wechselt. Ein Buch, das in der „arbeiterlichen“, nachhaltig von Gewalt geprägten Gesellschaft des Ostens mit Gewinn zu lesen ist. Schon jetzt eines der interessantesten Bücher mindestens dieses Frühjahrs.

Christian Baron: Ein Mann seiner Klasse. Claassen, 288 Seiten, 20 Euro (mz)