Die Leiterin des Karl-Marx-Haus im Gespräch

Trier/dpa. - Dies liege daran, dass vieleMenschen die Ideen von Marx mit Vorstellungen von sozialerGerechtigkeit verbinden, sagte die Leiterin des Museums undStudienzentrums Karl-Marx-Haus der Friedrich-Ebert-Stiftung in Trier,Professorin Beatrix Bouvier, in einem Interview mit der DeutschenPresse-Agentur dpa. Auch bei jungen Menschen gebe es ein deutlichgewachsenes Interesse an Marx' Gedankengut. Eine Renaissance desMarxismus bedeute dies aber nicht.
Warum kommt Marx derzeit immer wieder ins Gespräch?
Bouvier: «Ein Grund sind sicher die wöchentlichen Meldungen übergroße Firmen, die Riesengewinne machen und Leute entlassen: Sie lösenbei den Leuten eine Ohnmacht angesichts einer für sieunüberschaubaren Entwicklung aus. Wir sehen Ungerechtigkeiten undschon kommt Marx wie ein Stehaufmännchen immer wieder hoch. Wenn esnur Bilder, Symbole oder seine Köpfe sind. Sei es als Drohgebärdeoder Schreckgespenst - oder weil man sagt: Alles was Veränderungheißt, ist er.»
Warum besteht ein Drang nach gesellschaftlicher Veränderung?
Bouvier: «Die Gesellschaft spaltet sich immer mehr. Das Bewusstsein,dass die Gegensätze in unserer Gesellschaft größer geworden sind, dasist schon da. Und dass es Verlierer und Gewinner gibt. Und da es ganzviele Verlierer gibt, ist da die Angst vor dem Abstieg. DieseVerschiebungen tragen dazu dabei. Auch das fast 15 Jahre gültigeneoliberale Denken, dass der Markt alles richten wird, nimmt ab. Dasist nicht mehr Konsens. Sondern die Vorstellung, dass man etwasgestalten muss, nimmt zu.» Können Sie ein Beispiel nennen, wo Marxpolitisch unterschwellig mitschwingt?
Bouvier: «Nehmen wir den Wahlerfolg der Linken. Da fällt das WortMarx sicherlich nicht. Aber jeder assoziiert es und schreibt es ihnenmöglicherweise zu. Wenn man sich die Wähler anschaut, so sind dasnatürlich in hohem Maße diese Verlierer. Es ist das sogenanntePrekariat - die, die hängen geblieben sind. Das sind Protestwähler,die können auch anderswo hingehen. Sie sind empfänglich für diese Artvon Protest gegen alles was ungerecht ist, ohne dass jemand ihnensagt, wie man es machen kann. Marx hat zur Gesellschaftsgestaltungwenig gesagt, nur die Situation beschrieben wie es ist.»
Könnte man die Hinwendung zu Marx als Renaissance des Marxismusbezeichnen?
Bouvier: «Das glaube ich nicht. Das hat andere Formen heute. DenMarxismus will ja auch keiner wieder haben. Aber das Spielen oder dasInstrumentalisieren von Marx Gedanken, das sehe ich. Eine Renaissancehieße ja, dass da wirklich ernsthaft eine Bewegung dahinter stände.Das sehe ich nicht. Das sind auch nicht die Linken, weil sie viel zusehr Protest sind. Und viel zu heterogen in der Wählerschaft sind.Die können morgen woanders hingehen.»
Gibt es auch weltweit neue Bewegungen mit marxistischen Hintergrund?
Bouvier: «Wir haben von Lateinamerika aus einiges an Bewegung, etwain Venezuela und Bolivien. Ohne dass der Name fällt, sind es so etwaswie linke soziale Bewegungen. Und da in diesen Regionen schon malMarx'sches Gedankengut mit Befreiungstheorien kombiniert worden ist,ist das ein bisschen im Hintergrund. Als positive Vorstellung, dienicht so belastet ist wie in anderen Teilen der Welt.»
Was hat von Marx' Gedanken heute noch Gültigkeit?
Bouvier: «Er war vor allem ein Analytiker. Und er hat die Weltverändert, ob missbraucht oder nicht. Sein Analyse-Instrumentariumist heute noch gültig. Die Art und Weise wie er denkt und beschreibt- die könnte man heute noch anwenden. Sie führt allerdings nicht zuLösungen. Marx hatte keine Idee, wie die Gesellschaft aussehenkönnte. Erst später wurden mit seiner Lehre geschlossene Systemeentwickelt, die den Missbrauch - ob von Lenin oder von Stalin -möglich gemacht haben.»
Interview: Birgit Reichert