"Der Sündenfall von Wilmslow" von David Lagercrantz "Der Sündenfall von Wilmslow" von David Lagercrantz: Der Tod des ersten Maschinenmenschen

Der Tote liegt auf dem Bett, die Gesichtszüge entspannt. In einer Zimmerecke köchelt ein Topf mit Zyanid, auf dem Nachtschrank liegt ein schwarz verfärbter Apfel. Der Kriminalpolizist Leonard Corell vermerkt die Details getreulich in seinem kleinen schwarzen Notizbuch. Alles hier in dem Haus in der kleinen mittelenglischen Gemeinde Wilmslow deutet auf Suizid. Ein wenig aufwendig findet Corell die Vorgehensweise des Selbstmörders.
Aber, das wird schon wenig später klar, bei dem Mann im Bett handelt es sich ja auch nicht um irgendwen. Alan Turing ist eines der größten Genies des britischen Empire, ein visionärer Mathematiker, ein Pionier des Computerzeitalters und das Hirn, dem es im II. Weltkrieg gelungen war, Formeln und Rechenmethoden zu erdenken, mit denen die britische Government Code and Cypher School im sagenumwobenen Bletchley Park die Codes der deutschen Enigma-Maschine entschlüsseln konnte. Corell, ein Kleinstadtpolizist mit wenig persönlichem Interesse an der Polizeiarbeit, fühlt sich nun berufen, herauszufinden, was den gerade 41-jährigen Sonderling in den Tod getrieben hat.
Eine Versuchsanordnung, die es so nie gab, die der schwedische Autor David Lagercrantz aber am geeignetsten fand, das heute weitgehend vergessene Wirken des eigensinnigen Informatikers Turing zu beleuchten. Lagercrantz, der mit einer Biografie des Fußballers Zlatan Ibrahimovic einen Welterfolg landete und zuletzt als Fortsetzer von Stieg Larssons erfolgreicher Millennium-Serie Lob und Tadel gleichermaßen einheimste, verbindet in seinem ersten eigenen Roman Fakt und Fiktion. Alle Lebensdaten Turings sind korrekt. Nur das von Leonard Corell akribisch betriebene Todesermittlungsverfahren hat es in Wirklichkeit nie gegeben.
Leider, meint Lagercrantz, der über fünf Jahre Dokumente zum tragischen Ende des begnadeten Tüftlers und Denkers aus London studiert hat. Als Turing 1954 stirbt, wird der Fall nach kurzer Betrachtung und der Abfassung eines „schlampigen Protokolls“ (Lagercrantz) zu den Akten gelegt.
Es ist allen lieber so. Denn so sehr Alan Turing den Triumph der Briten im Verschlüsselungskampf mit Deutschland verkörpert, so sehr steht er auch für die Paranoia der Nachriegszeit. Turing ist schwul, für die britischen Geheimdienste ein sicheres Indiz dafür, dass Moskau das Genie in der Tasche hat. Das Empire schämt sich nicht nur für seinen geheimen Helden, es bestraft ihn auch. Nach einer Verurteilung wegen Homosexualität darf der Mann, der als erster Wege skizzierte, wie Maschinen denken lernen könnten, nur noch zwischen Gefängnis und chemischer Kastration wählen.
Alan Turing, dessen sonderbare Lebensgewohnheiten und von der gesetzlich gewünschten Norm abweichende sexuelle Präferenzen im Krieg geduldet wurden, weil das Genie als Britanniens einzige Rettung vor den mörderischen deutschen U-Boot-Rudeln im Atlantik galt, stürzt in Depressionen. Im Alltag ohnehin kaum lebensfähig und auf fachlicher Ebene von kaum einem Kollegen wirklich verstanden, vereinsamt der brillante Theoretiker, auf dessen Arbeiten zu paradoxen Fragen wie der, was der Satz „Ich lüge“ eigentlich aussagt, viele bis heute gültige Maximen und Grundregeln der Computertechnik beruhen. So fußt das Captcha-Verfahren, mit dem Spam aus dem Internet gefiltert wird, auf dem Turing-Test, den Alan Turing sich 1950 ausgedacht hatte.
Lagercrantz’ Ermittler Corell folgt den Fährten des Verfemten in die Dunkelheit. Arglos enthüllt er Geheimnisse, die auch Jahre nach dem Krieg gewahrt werden sollen, naiv stolpert er in Fallen, die nicht für ihn gedacht sind. Wo eine Biografie Alan Turings Leben referieren würde, macht Langercrantz’ Idee, rundherum einen Thriller zu stricken, die Sache spannend.
Selbstmord? Oder Mord? Das ist die Frage, die Corells lange Reise durch eine Zeit voller Vorurteile und archaischer Vorschriften überschattet. Leonhard Corell wird unterwegs verhört und zusammengeschlagen, beargwöhnt und gelobt. Den Code zum Tod des genialen Logikers knackt er am Ende, die Ehrenrettung des von seinem Land verachteten Genies aber muss das Nachwort leisten. 2009 entschuldigte sich der britische Premierminister Gordon Brown für die entsetzliche Behandlung, die das Land seinem Retter angedeihen ließ. (mz)