Der Spur der Wahrheit folgen
Der Richter fällt am Ende ein Urteil über sich selbst: "Es ist vorstellbar, dass die Sehnsucht, mit der wir nach der Wahrheit lechzen, einen Spalt in die Mauer schlägt, durch den für einen kurzen Moment ein Ausweg aufscheint." Imre Kertész kommt im Nachwort zu seiner Erzählung "Der Spurensucher" zu diesem - wie er meint - zugleich niederschmetternden wie auch aufrichtenden Ergebnis.
Der Text ist unmittelbar nach dem "Roman eines Schicksallosen" entstanden, dem beeindruckenden Erfolg des großen ungarischen Schriftstellers. Er handelt von einem Mann, der sich zusammen mit seiner Frau an die Stätten seiner Demütigung, seiner Leiden begibt. Die in unmittelbarer Nachbarschaft gelegene Denkmalstadt der deutschen Klassik wird namentlich nicht erwähnt. Der Baum, der dem Lager seinen tödlichen Namen gab, wird nicht genannt. Aber wir wissen, worum es geht, auch wenn wir nicht wüssten, dass der Autor, 1929 als Sohn jüdischer Eltern in Budapest geboren, 1944 nach Auschwitz und von dort nach Buchenwald deportiert wurde. Das Authentische dieser Erzählung ist fast unerträglich - aber ausdenken kann sich kein Dichter den Erinnerungshintergrund des Mannes, der an Ort und Stelle abrechnen wollte. Diese persönliche Erinnerung findet der "Spurensucher" nicht wieder. Die Teilhabe am Schicksal von Millionen hat ihm die Rolle des Richters aufgezwungen. Insofern ist er keiner dieser selbsternannten Gerechten. Aber die inzwischen abgelaufene Geschichte entwindet ihm diese Rolle wieder: Er findet zwar das KZ-Tor mit dem unerträglichen Wort, das Arbeit und Freiheit ein für allemal als Begriffe voneinander trennt. Und die deutsche Übersetzung von "suum cuique" (Jedem das Seine) ist durch die Geschichte falsch geworden - eine richtige gibt es nicht mehr. Aber die inzwischen abgelaufene Geschichte entwindet ihm diese Rolle wieder.
Der Spurensucher findet so viel von seiner Vergangenheit, wie er benötigt, um sich des richtigen Ortes gewiss zu sein. Aber er findet nicht mehr den eigentlichen "Anklagepunkt". Und auch der deutsche Kongressteilnehmer und Kollege, den er sich vornimmt, entgleitet dem Hohen Gericht durch Winkelzüge, Ausflüchte, Alibis und höfliche Konvention. Kertész hat die Erzählung nach einem Aufenthalt in Weimar im Jahre 1962 geschrieben, wohlgemerkt auf Einladung der DDR. Damals schon entzog sich die geschichtliche Realität dem Gericht und davon spricht der Autor in seinem Nachwort. Jeder, der den Weg von Kertész nicht gehen musste, verstummt vor dieser Sehnsucht nach Wahrheit.
Für uns alle steht eine Frau, die der Spurensucher in der Menge entdeckt. Verderbende oder Verdorbene - Engel oder Hexe? "Sie flirtete mit der Freiheit und schlief mit der Tyrannei."
Imre Kertész: "Der Spurensucher", Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt, 130 S., 11,80 Euro.