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Das Rauschen der Welt Das Rauschen der Welt: Oper "Sacrifice" wird in Halle uraufgeführt

Von Joachim Lange 07.03.2017, 11:13
Nils Thorben Bartling - mit der Aufschrift „Ich kann keine Oper mehr sehen“ - und Sybille Kreß als Journalisten Krall und Beermann.
Nils Thorben Bartling - mit der Aufschrift „Ich kann keine Oper mehr sehen“ - und Sybille Kreß als Journalisten Krall und Beermann. Falk Wenzel

Halle (Saale) - Das Vorhaben ist kühn gedacht und seine Umsetzung eine gewaltige Kunstanstrengung: Die neue Leitung des Opernhauses in Halle hat für ihre erste Spielzeit bei Komponistin Sarah Nemtsov (37) und Texter Dirk Laucke (34) die vieraktige, ziemlich groß geratene Oper „Sacrifice“ in Auftrag gegeben. Intendant Florian Lutz hat die Uraufführung jetzt inszeniert.

Wieder in der Raumbühne „Heterotopia“ von Sebastian Hannak, in der schon der „Fliegende Holländer“ an Land ging, das Ballett den Funken überspringen ließ und der „Wut“-Text von Elfriede Jelinek zum Theaterereignis wurde - und wie bei „Wut“ mit den Zuschauern auf der höchst sinnvoll rotierenden Drehbühne, einem überbauten Zuschauerraum samt gipfelfernem zweitem Rang sowie der Hinter- und Nebenbühne als Spielfläche. Vor allem mit dem sichtbar über dem eigentlichen Graben platzierten Orchester.

Michael Wendeberg leitet die Staatskapelle nicht nur mit faszinierender Präzision, sondern koordiniert überdies den komplexen Raumklang, zu dem eine ganze Palette jenseits des klassischen Orchesterklangs hinzukommt. Da wird gequietscht und geraschelt, da wird ein Stück Styropor zum Streichinstrument; dazu kommen jede Menge elektronische Einspielungen. Die Musiker fremdeln kein bisschen mit den neuen Tönen, sondern erweisen sich als souveräne Alleskönner.

So entsteht eine Art von globalisierendem und beklemmendem Welttheater. Mit mehreren Schauplätzen und Situationen. Deren Zusammenhang stellt sich freilich weniger durch den Text her, der zum größten Teil in den Untergrund gegangen ist und nur ab und zu mal an die Oberfläche blubbert. Im Gesamtkunstwerk spielt der konkrete Text von Laucke, der ja in Halle einst mit seinem „Ultra“-Projekt am Thalia für Furore gesorgt hatte, nicht die erste Geige. Und da, wo er in den Vordergrund tritt, wie bei den Diskursszenen der Kriegsreporter vor Ort (Nils Thorben Bartling, Sybille Kress, Frank Schilcher) über die Schamlosigkeit von Bildern, bleibt er eher schwach.

Zur exklusiven Minderheit der Werke, in denen Wort und Musik auf Augenhöhe einhergehen, gehört die Oper „Sacrifice“ jedenfalls nicht. Hier dominiert vor allem der Klangrausch, den Nemtsov entfesselt und der die Assoziationsräume öffnet in die brandaktuelle Geschichte.

Triumph des Todes

In der geht es um nicht weniger als den Dschihad und die Faszination, die diese Flucht aus der Wirklichkeit und dem Leben offenbar auch auf junge Mädchen, zum Beispiel aus Sangerhausen, ausübt. Und zwar nicht nur, um zu provozieren und zu revoltieren, sondern tatsächlich, um aus der rational erklärbaren, obendrein komfortabel ausgestatteten Welt, in der das Leben so oder so allemal über die Faszination des Todes triumphiert, auszusteigen.

Um zu Mördern zu werden und das für den Weg ins Paradies zu halten, von dem sie bis dato auch noch nichts gehört hatten. Jana und Henny ziehen tatsächlich los. Mit einem alten Ford. Sie begegnen dem Flüchtling Azuz, der in der Ferne des zweiten Ranges auftaucht, wo ihm die Worte für das Grauen, dem er gerade entflieht, fehlen, und der bei den beiden Mädels auf der Kühlerhaube landet. Diese gegenläufigen Bewegungen machen Marie Friederike Schöder und Tehila Goldstein auf der einen und Gerd Vogel auf der anderen Seite vor allem mit viel leuchtendem Vokalisen-Eifer über dem Klanggrundrauschen mit seinen immer wieder einschlagenden Salven eher emotional als im Wortsinn nachvollziehbar.

Auch die Ratlosigkeit der Elterngeneration, hier der Frau und des Mannes, wird vor allem emotional und durchs (klein)bürgerliche Ambiente vermittelt. Anke Bernd ist als streng dreinblickende, die Deutschlandfahne bügelnde, verzweifelt nach einer „Alternative“ suchende Mutter in Hochform. Vladislav Solodyagin empfängt mit Friedenstaube auf dem T-Shirt und mit offenen Armen die auftauchenden Flüchtlinge daheim.

Florian Lutz hat klare Bilder bei der Hand. Wenn mit einer Fahnen-Auswahl wie Pegida in Dresden vor einem aufgehenden Sonnenzeichen entlang marschiert wird, ist das beklemmend. So wie auch die eingespielten Videos (effektvoll: Konrad Kästner), die wohl Drohnen-Einsätze wiedergeben. Und doch tun weder die Autoren noch der Regisseur so, als wären sie schlauer als die Zuschauer im Saal. Und das gehört auf die Habenseite der Produktion.

Was kann man tun?

Es ist keineswegs nur Koketterie oder ein bloßer (bei all dem Ernst hochwillkommener) selbstreferenzieller Witz, wenn die Komponistin via Einblendung irgendwann ihre Ratlosigkeit zu Protokoll gibt. Was kann man tun? Was kann ich tun? So fragt sie. Und lässt ihre faszinierende, raumfüllende, keine Ausflucht zulassende Tonspur des Grundrauschens einer Welt voller Gewalt und voller Fragen, doch ohne Harmonie und Schönheit vortäuschende Antworten, immer noch weiterlaufen.

Irgendwann hat man das Gefühl, dass sie nicht mehr so recht herausfindet aus ihrer Selbst- und Zeitbefragung. Zwei Stunden ohne Pause und ohne nennenswertes Atemholen in einem emotionalen Dauererregungszustand  - das muss man erstmal durchhalten. Weniger wäre da viel mehr gewesen. Aber ein Wohlfühlabend zum Seele baumeln lassen will und soll es eh nicht sein. Ein Musiktheatererlebnis der Extraklasse ist es.  (mz)

Nächste Vorstellungen: 11. März um 19.30 Uhr, 18. Juni um 21 Uhr

Raus aus Mitteldeutschland: Henny (Tehila Goldstein, links) und Jana (Marie Friederike Schöder) fahren in den Krieg.
Raus aus Mitteldeutschland: Henny (Tehila Goldstein, links) und Jana (Marie Friederike Schöder) fahren in den Krieg.
Falk Wenzel