Clemens Meyer Clemens Meyer:
LEIPZIG/MZ. - Unter dem Titel „Gewalten. Ein Tagebuch“ (S. Fischer,192 Seiten, 16,95 Euro) legt der in Leipzig lebende Autor Clemens Meyersein drittes Buch vor. Mit dem gebürtigen Hallenser sprach unserRedakteur Andreas Montag.
Herr Meyer, Sie legen ein Tagebuch vor.Es geht also um Persönliches?
Meyer: Es ist vor allem ein Buch,das sich mit einem zeitnahen Abschnitt derWirklichkeit beschäftigt. Und es ist aus meinerpersönlichen Sicht auf die Dinge entstanden,die für mich im Jahr 2009 wichtig gewesensind.
Die Wirklichkeit tritt in Ihren Textensehr stark auf. Um nicht zu sagen: krass.
Meyer: Mir ist es darauf angekommen,über das Persönliche hinaus die Welt in dieTexte hineinzuholen - die reale und auch einesurreale Welt. Das war mir auch bei meinenbeiden ersten Büchern schon wichtig: nichtnur vom Ich zu schreiben.
Wie es häufig in der jüngeren deutschenLiteratur der Fall ist...
Meyer: Das ist ein Phänomen der Zeit.Dieses Tagebuch enthält natürlich auch sehrpersönliche Dinge, solche, die mir nahe gegangensind. Und gleichzeitig gibt es neben der absolutenNähe auch die Fiktion. Der Erzähler brichtdas Geschehene und verfremdet es.
Das Risiko ist groß, wenn ein Schriftstellerdie Welt so persönlich nimmt. Zum Beispiel,wenn Sie sich einem Mörder nähern, einem Mann,der ein Kind missbraucht und getötet hat.
Meyer: Das war nicht einfach zu schreiben.Ich habe lange gebraucht, um in den Text hineinzukommen.Er hat mich sehr angestrengt. So sehr, dasser mir selber nicht gut getan hat. Aber dashabe ich erst später bemerkt. Ich hatte micheine Zeit lang regelrecht hineingegraben in die Geschichte,auf meinem Schreibtisch lagen Fotos des Opfersund des Täters...
Woher rührt dieser starke Bezug?
Meyer: Diese schreckliche Geschichteist ja in Leipzig, in meiner Nachbarschaftpassiert. Ich wollte jenseits einer Verurteilungsposeschreiben, auch wenn die Abscheu natürlichgroß ist angesichts eines solch monströsenVerbrechens.
Wenn ich mich aber einer solchen Geschichteannehme, mich hineinbegebe, auf fiktive, aberauch persönliche Weise etwa über sexuelleOrientierungsschwierigkeiten reflektiere -dann wird das nicht allen Leuten gefallen.Aber ich finde es wichtig, sich dieses Themasanzunehmen, weil ich damit zugleich die Leserzwinge, sich zu stellen. Das gilt in gleicherWeise auch für den Amok-Text. Sicher machtman sich damit auch angreifbar, aber das istmir egal.
Beide Texte, der über den Kindermörderund jener über den Amok-Täter, heben das allgemeineEntsetzen auf eine intensivere Stufe der Wahrnehmung.
Meyer: Das war meine Absicht. Ichwollte den bitteren Weg bis zu Ende gehen,um die Geschichten literarisch auszuloten undden Gegenstand damit gleichsam auch den Medienwieder wegzunehmen.
Sie haben für die Geschichte einen sehrharten Schluss gewählt, mit Blick auf denTäter und Details der Tat.
Meyer: Die Geschichte bricht einfachab. Sie sollte ursprünglich noch länger werden,aber ich habe dann einfach einen Bindestrichgesetzt, wo sie noch weitergehen könnte...
Einen wirklichen Schluss, eine Auflösunggibt es ja auch in der Wirklichkeit nicht:Der Täter ist verurteilt, die Eltern trauernum ihr Kind.
Meyer: Nein, es gibt kein erlösendesEnde. Und das wollte ich auch erzählen, denLeuten zugleich den Spiegel vorhalten undihre eigene Neugier zeigen. Dabei bewege ichmich als Autor immer auf einem schmalen Grat.Mal bin ich dicht bei dem schrecklichen Geschehenund der Psyche des Täters, mal stoße ich ihnfort. Und manchmal lenke ich ab, mache einenBogen, um dann zu ihm zurückzukehren.
Natürlich weiß ich, dass man mit solchen GeschichtenMenschen auch Schmerz zufügen kann. Ich mussteabwägen, ob ich das schreiben soll. Und ichhabe mich dafür entschieden.
Damit werden Tabus berührt. EmpfindenSie das als eine Art Auftrag?
Meyer: Es wird Menschen geben, denendas, was ich geschrieben habe, zu weit geht.Aber ich meine, lieber geht man zu weit alsgar nicht, wenn es das Thema verlangt. Indiesem Sinne hat Literatur einen Auftrag.
Im ersten Text des Bandes schildert derIch-Erzähler eine existenzielle Situation:Trunkenheit, Widerstand gegen Polizeibeamte,Gefangenschaft in einem zellenartigen Psychiatriezimmer.Haben Sie nicht Angst, dass man den Autorhinter der Geschichte vermuten wird?
Meyer: Es ist der erste Text, derentstanden ist. Ohne ihn hätte es das ganzeBuch nicht gegeben. Und nicht ohne das Erlebnis,das ihm tatsächlich zugrunde liegt, auch wennder Text das Erlebte verfremdet. Das war prägend, ich kann es nicht ertragen, nichtfrei in meiner Bewegung, sondern einer Maschinerieausgeliefert zu sein. Daher rührt auch derTitel des Tagebuchs: "Gewalten". Das ist derEinstieg, die Ouvertüre.
Es gibt Passagen in meinen Texten, bei denensich Leser fragen werden, ob ich das tatsächlicherlebt habe. Zum Beispiel, zu Prostituiertenzu gehen. Manches ist wirklich erlebt, manchesist Fiktion. Mit den möglichen Reaktionenmuss ich leben. Für mich zählt in erster Hinsichtder Stil, der literarische Gehalt. Und andiesem Buch habe ich so hart gearbeitet wienoch an keinem anderen.
Aber es besteht doch die Gefahr, sichselbst zu entblößen und nicht mehr Herr desTextes zu sein? Sie vertrauen Ihren Lesern?
Meyer: Ja. Und ich habe Vertrauenin den Text, der etwas vom Wahnsinn dieserZeit transportiert. Wenn Menschen das in skandalisierenderWeise ausschlachten sollten, ist das derenSache, nicht meine. Ich bin erst einmal froh,dass das Buch da ist.
Ihre Texte sind sehr komplex und dicht.Wie sind sie entstanden - in einem Guss?
Meyer: Den ersten Text habe ich indrei Tagen geschrieben, quasi in einem Stück.Auch die ersten Fassungen der anderen Textesind so entstanden, immer nachts. Dabei istauch das eine oder andere "Treibmittel" verwendetworden, keine Drogen, die lehne ich ab. Aberich habe viel geraucht und gegen Ende derNacht, um fünf Uhr morgens, auch mal einen Kognakgetrunken. Am nächsten Tag habe ichdas Geschriebene dann noch einmal überarbeitetund weitergemacht.
Ohne Unterbrechung?
Meyer: Als der erste Text geschriebenwar, habe ich eine lange Pause eingelegt,gar nichts getan, nur auf dem Sofa gelegen.Da machten sich schon alle Sorgen. Immerhinwaren die Verträge unterschrieben, das gezahlteGeld war schon fast ausgegeben. Ich habe dieZeit aber gebraucht, um die Geschichten reifenzu lassen. Dann habe ich nur noch geschrieben.Augen auf und durch. Es war sehr anstrengend,ich bin dabei an meine Grenzen gestoßen.
Da Sie vom Kognak sprachen: Alkohol istja ein Mythos in der Literatur. Wieviel Stimulanzverträgt das Schreiben?
Meyer: Schwer zu sagen. Früher dachteich, das geht gar nicht. Leider bin ich davonein bisschen abgekommen. "Als wir träumten"habe ich stocknüchtern geschrieben, bei "DieNacht, die Lichter" merkte ich: Ein bisschenStimulanz tut gut. Jetzt war es mehr, abernicht so viel, dass ich betrunken gewesenwäre. Wenn du intensiv arbeitest, einen Sounderzeugen willst, darfst du nicht betrunkensein. Texte, die so entstanden sind, müssenam nächsten Tag zur Hälfte verworfen werden.
Was tun Sie, um "runterzukommen" nachder Arbeit?
Meyer: Liegen. Lesen. Ausstellungenansehen. Nach Berlin fahren. Vom Bahnhofzu Fuß nach Hause gehen. Aber man muss aufpassen,dass solche Phasen nicht in ultimative Faulheitmünden.
Das Buch hat Sie sehr angestrengt. SindSie zufrieden mit sich?
Meyer: Anfangs habe ich dieses Tagebuchals eine Art Nebenwerk betrachtet. Aber baldist es immer wichtiger für mich geworden.Nun sage ich, es ist mein drittes Buch, esist gleichwertig. Und es ist mir sehr wichtig.
Einer der Texte, ein melancholisches Naturstück,endet mit dem Satz: "Wir fahren wohin wirfahren". Ein großartiger Satz.
Meyer: Ja, allerdings ist der Satzgeklaut. Er stammt aus Jurek Beckers "Jakobder Lügner", glaube ich. Das steht auch imText. Einzelne Sätze darf man stehlen, ganzePassagen nicht. Das soll man nicht tun.
Junge, erfolgreiche Künstler ziehen nachBerlin. Wann packen Sie den Koffer?
Meyer: Ich bin oft in Berlin und magdie Stadt auch. Meine Freundin lebt dort.Aber ich werde in Leipzig bleiben. Hier istmeine Wohnung, mein Archiv. Meine Heimat.Hier habe ich meine Bücher geschrieben. Hierlebt meine Mutter, leben meine Freunde. UndHalle, wo ich geboren bin, ist ganz nah. Dortbin ich auch sehr oft.
Und überhaupt (lacht): Man muss ja auch dieRegion stärken. Alle wollen nach Berlin? Alleindeshalb muss ich hier bleiben.