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Christoph Schlingensief Christoph Schlingensief: «Eine Ausnahmegestalt»

Von Nada Weigelt 19.08.2011, 07:53

Berlin/dpa. - Ein Jahr ist es jetzt her, dass ChristophSchlingensief seinen Kampf gegen den Krebs aufgeben musste. Am 21.August starb der rebellische Theater- und Filmemacher mit 49 Jahrenin Berlin. «Ich dachte immer, so jemand kann nicht sterben. Das ist,als ob das Leben selbst gestorben wäre», sagte die österreichischeLiteraturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek damals.

Auch ein Jahr danach sind in der deutschsprachigen KulturszeneTrauer und Betroffenheit noch groß. Fast scheint es, als hätte derfrühe Tod des oft auch umstrittenen und angefeindeten Künstlers erstdeutlich gemacht, welche Bedeutung seine aufsässige Kreativität fürdas deutsche Theater hatte.

«Es ist eine Riesenlücke geblieben», sagt der langjährigeWegbegleiter Matthias Lilienthal, Intendant des Berliner TheatersHebbel am Ufer, in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa.«Christoph Schlingensief hatte etwas völlig Einmaliges, von dem mannicht sagen kann, das wird jetzt durch jemand anderen aufgefangen.»

Besonders spürbar war der Verlust bei der Kunstbiennale vonVenedig. Schlingensief hätte eigentlich den deutschen Pavillon fürdie weltweit wichtigste Kunstschau gestalten sollen. Doch seine Pläneund Ideen waren noch nicht so weit, dass sie sich einfach umsetzenließen. Statt einer Ausstellung von ihm wurde es eine Ausstellungüber ihn, wie Kuratorin Susanne Gaensheimer sagte.

Im Zentrum der noch bis zum 27. November laufenden Schau stehteine Rauminstallation, die in gewisser Weise als eine Quintessenzseines kurzen, leidenschaftlichen Lebens gelten kann: Das szenischeOratorium «Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir» hatte schonbei der Ruhrtriennale 2008 für Aufsehen gesorgt. Der damals alsgeheilt geltende Krebspatient setzt sich in dem Stück schonungslosoffen mit seinen Leid-Erfahrungen und den letzten Fragen des Lebensauseinander.

Dass der deutsche Pavillon Anfang Juni mit dem Goldenen Löwen derBiennale ausgezeichnet wurde, war eine posthume Ehrung für denAusnahmekünstler - auch wenn mancher Kritiker ihn bei der etabliertenGroßveranstaltung allzu handzahm vereinnahmt sah. «Er hat es nichtverdient, dass ihn alle mit einem Mal ganz furchtbar liebhabenwollen, dass sie ihn heimholen ins museale Reich des Kanonisierten»,schrieb etwa «Die Zeit».

Am stärksten wird Schlingensiefs Vermächtnis wohl in Afrikalebendig bleiben. Seine Witwe Aino Laberenz (30) versucht dort,unterstützt von einem hochkarätigen Kuratorengremium, seinen letztengroßen Lebenstraum eines «Operndorfs» umzusetzen. «Aber wir wissenauch da, dass wir nicht das Werk von Schlingensief vollenden können»,sagt der beteiligte Berliner Rechtsanwalt und Kunstförderer PeterRaue. «Wir können nicht so tun, als sei das alles eins zu eins dieUmsetzung dessen, was er gemacht hätte.»

Dennoch: Im Oktober soll als Teil eins des Projekts in BurkinaFaso eine Schule für Kinder aus der bitterarmen Region starten. Inder zweiten Bauphase sind eine Krankenstation, ein Gästehaus undKunststudios geplant. Und als dritter und letzter Abschnitt soll daseigentliche Festspielhaus mit Proberäumen und Werkstätten folgen.«Ein Projekt, wo Kunst und Leben zusammengehen», so beschriebSchlingensief selbst die Idee.

Auf seine eigentlich schon für den Herbst 2010 angekündigtenMemoiren müssen die Leser indes weiter warten. «Wir haben noch keinenErscheinungstermin. Das Projekt wird unter der Federführung seinerWitwe fortgeführt», sagt Gaby Callenberg, die Öffentlichkeitschefinvom Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch.

Das Begleitbuch zum deutschen Biennale-Pavillon «ChristophSchlingensief» kann allerdings auch als eine Art Lebensrückblickgelesen werden. Freunde und Wegbegleiter nehmen darin nochmals aufeine sehr persönliche Art Abschied von dem großen Theaterprovokateur.

«Schlingensief war eine Ausnahmegestalt, ein Grenzdurchbrecher. Erhat die Spielregeln, die wir uns selbst auferlegt haben, konsequentinfrage gestellt», schreibt etwa der Intendant der BerlinerVolksbühne, Frank Castorf. Und der Dramaturg Carl Hegemann resümiert:«Bei Christoph Schlingensief habe ich gelernt, was es heißt, dass manin der Kunst alles machen kann, dass aber trotzdem in der Kunst nichtalles geht.»

Susanne Gaensheimer, «Christoph Schlingensief: Deutscher Pavillon2011, 54. Internationale Kunstausstellung», Verlag Kiepenheuer &Witsch, 368 Seiten, 29,99 Euro, ISBN 978-3-462-04343-3