Christian Boltanski Christian Boltanski: Mausoleum eines Lebenden
Dessau/MZ. - Ein solch weit reichendes Interesse an demKünstler Boltanski liegt in der Universalitätbegründet, die sein Werk von Anfang an beanspruchthat. Dies wird im Auge behalten, wer sichin der Orangerie des Georgiums auf Boltanskiseigens für den Ort und den Anlass geschaffenejüngste Arbeit einlässt.
"La vie impossible de Christian Boltanski"(Das unmögliche Leben des C. B.) hieß schon1968 die erste Installation Christian Boltanskis.Als ihm 2001 zugleich der Preis der Nord/LBund der Goslarer Kaiserring zugesprochen wurde,hat er die Last solcher Ehrungen in der ihmgemäßen Selbstironie als ein Begräbnis verstanden,auf das eine Art Gedächtnis-Ausstellung folgt.Er hat seine privaten und künstlerischen Archivebuchstäblich geleert und die Dokumente inein Neben- und Übereinander mehr verstreutals sortiert. So beweisen zahllose Zeugnisse,ob Familienfoto, Packzettel, Quittung, Zeitungsausschnittoder private und offizielle Korrespondenz,dass C. B. ein Leben hatte, es erscheint aberals eine Möglichkeit unter vielen.
In der Halle hat Boltanski in loser Anordnunggroße, leicht geneigte Stellwände aus Plexiglasaufgestellt. Auf den transparenten Tafelnsind unzählige stark vergrößerte und grobgerasterte Fotos offensichtlich aus Familienalbenaufgedruckt. Es sind dies wiederum persönlicheErinnerungen, allerdings bewusst nicht nuraus Alben seiner eigenen Familie. Eine unablässigeSerie von Äußerungen aus dem Off wollen dasBild, das hier von einem Menschen namens Boltanskigeschaffen wird, erst runden: Kurze Sätzewie Erinnerungsschnipsel von Freunden undBekannten über Wesenszüge des "Verstorbenen"oder Anekdoten aus seinem Leben.
All dies wäre kein Werk Boltanskis, wenn esnicht theatralisch inszeniert wäre. Nichtumsonst hat man einige seiner Arbeiten als"Altäre" bezeichnet. So präsentiert sich auch"La vie impossible" im sakralen Dämmerlicht.Stecklampen streuen trübes Licht über dieStellwände. Aus den Archivkästen, die in zweiReihen an der Stirnwand hängen, dringt derkalte Schein von Neonröhren.
An Mausoleen oder Dunkelkammern zu denken,hat man bei Boltanski lange schon gelernt.In der Orangerie schwingt aber die Ironiemerklich mit. Die Archivkästen sind nichtmit Glas, sondern mit Fliegengitter verschlossen,als seien es Speisekammern. Der Besucher scheinteingeladen, auf einem der Stühle Platz zunehmen, die vor der Vitrinenwand in zwei Reihenaufgestellt sind. So ähnlich meditiert manim Dommuseum von Siena vor den kostbaren,goldschimmernden Tafeln des "Marienlebens"vom Hochaltar Duccios. Auch sie erzählen erzählenin einem auratisch aufgeladenen Raum von einemund von allen Leben.
Wie andere große Künstler verfolgt Boltanskinur ein einziges Thema in seinem Werk. Obes die "Toten Schweizer" oder die "Kinder"waren, "die ihre Eltern suchen", ob es dieunzähligen Selbstrecherchen sind, Boltanskistellt immer wieder die Frage nach dem Ich.Trotz der Beweislast anscheinend historischerDokumente bleibt das Individuum im Ungefährenzwischen Wirklichkeit und Erfindung. Boltanski,der über sich oder andere mit dem unaufhörlichenSammeleifer des Archivars berichtet, meintstets den Menschen im Allgemeinen. Das Wiedererkennendes eigenen Lebens im Spiegel der Lebensritualevon Kindheit, Familie, Beruf - die Wünsche,Hoffnungen, Glücksmomente und Enttäuschungen,die sich darin ansammeln - darauf will erhinaus.
Aber wie sagt eine der Stimmen über "Boltanski"?:"Der Tod, der Tod, er führte nichts anderesim Munde, es war sein Broterwerb geworden,vom Tod zu reden." Den Tod hat er als "dieeinzige Gewissheit" bezeichnet. Nun hat ersich selbst begraben.