Chicago begeistern mit Jazzrock und Balladen
Stuttgart/dpa. - Chicago? War das nicht die 80er-Jahre-Band mit dem Ohrwurm «Hard to say I'm sorry»? Nur eingefleischten Fans war noch in Erinnerung, dass die US-Amerikaner außer Schmuserock auch noch etwas anderes zu bieten hatten.
Bei den Stuttgarter «jazzopen» zeigte die vor über 40 Jahren gegründete Gruppe am Mittwochabend, dass sie beides kann: Jazzrock mit fetzigen und rasanten Bläsersätzen und schöne Balladen. Für Kenner keine Überraschung, schließlich war Chicago eine der ersten Rockbands, die mit Blechbläsern spielte und damit ihrem Rock eine jazzige Klangfarbe gab. Der Spagat kam an bei den etwa 4200 Fans: Grooven und Schwelgen muss kein Gegensatz sein.
Es sind noch vier der sieben Gründungsmitglieder von 1967 dabei. An diesem lauen Abend in Stuttgart fehlte von den vieren nur der Saxofonist Walter Parazaider in der Formation, die mit über 100 Millionen verkauften Platten und CDs zu den erfolgreichsten Rockbands der Geschichte gehört. Momentan sind die in die Jahre gekommenen Rocker mit ihrer neuen Scheibe «Stone of Sisyphus» auf Welttournee - Stuttgart war die erste Station in Deutschland. Eigentlich sollte das Album schon 1993 erscheinen, aber der Plattenfirma war es zu laut und zu funkig. Chicago steckte damals in der «Mainstream»-Falle.
Nun, da die Schmusewelle verebbte, ist die Scheibe raus, und die sieben Musiker zeigten in Stuttgart, dass sie nichts von ihrer Dynamik und Spielfreude verloren haben. Nach einem jazzigen Einstieg sagte Keyboarder und Sänger Robert Lamm: «Von einem Song, den bis jetzt kaum jemand kennt, zu einem, den die ganze Welt kennt.» Die leise Ballade «If you leave me now» - ihre erfolgreichste Single überhaupt aus dem Jahr 1976 - machte deutlich, dass Chicago immer wieder die Lautstärke und das Tempo wechseln wollte. Natürlich kam bei vielen Über-50-Jährigen Erinnerungen auf, wie sie vor 30 Jahren dazu Stehblues getanzt haben.
Leadsänger und Bassist Jason Scheff machte mit seiner markanten Kopfstimme seinen Vorgänger Peter Cetera vergessen. Cetera hatte 1985 eine Solokarriere gestartet. Als Scheff den Schmachtsong «You're The Inspiration» anstimmte, fragte sich der eine oder andere aber schon, wie dies zu einem Jazzfestival passt. Der Sprecher des Veranstalters, Harry Schmidt, sieht darin kein Problem - im Gegenteil: «Wir wollen kein puristisches Jazzfestival. Deswegen heißen wir ja jazzopen.» Der Auftritt von Chicago sei geradezu «idealtypisch» für dieses Konzept, das nicht elitär daher kommen soll.
Die US-Band mit den beiden Grauschöpfen Bill Champlin am Keyboard und James Pankow an der Posaune nahm diesen Vorhalt im Konzert ein wenig auf die Schippe. Mit einer rockigen Version des Swing- Klassikers «In the mood» wollten sie offensichtlich ironisch deutlich machen, dass sie zurecht bei diesem Festival sind. Als kurz vor Schluss «Hard to say I'm sorry» kam, traten sie dann den endgültigen Beweis an, dass Mainstream und Jazz zusammenpassen können. Aus einer Ballade wurde eine Jam-Session, bei der der Saxofonist Ray Herrmann, der Trompeter Lee Loughnane und der Posaunist Pankow ihr außergewöhnliches Können bei Improvisationen unter Beweis stellten.
Mit dem Klassiker «25 or 6 to 4» von 1970 verabschiedeten sich die Musiker unter dem Jubel ihres Publikums. «Genau so eine Stimmung wie bei Lenny Kravitz», kommentierte Sprecher Schmidt. Mit dem US- Rockstar hatte das Festival am vergangenen Freitag begonnen. Das Jazzfest geht noch bis Ende der Woche. Am Donnerstagabend sollte ein weiterer Weltstar seinen großen Auftritt haben: Paul Simon. Chicago ist noch in Hamburg (22. Juli) und Berlin (23. Juli) zu hören.