Buchmesse Buchmesse: Enttarnung des Onkels als Spitzel im Schafspelz
LEIPZIG/MZ. - Ein lauter Tod, auf den sich viele Journalisten stürzten, um ihre Geschichte zu erzählen - die vom guten Stasi-Mann. Der promovierte Historiker und DDR-Dandy mit einer Vorliebe für teure Tweed-Jackets, Pfeifen, Frauen und geistreiche Gespräche machte Eindruck. Ein guter Stasi-Mann? Eher der Spitzel im Schafspelz.
Als "IM Schäfer" hatte er mehr als 20 Jahre seinen Bruder, den Schriftsteller Hans Joachim Schädlich, dessen Familie, mehrere DDR-Autoren und Günter Grass ausspioniert, ihm nahe stehende Menschen ans Messer des Geheimdienstes geliefert. Erst 1992 werden seine Stasi-Aktivitäten bekannt. Diese Geschichte hat Susanne Schädlich (geboren 1965), Nichte des Inoffiziellen Mitarbeiters Karlheinz und Tochter des Schriftstellers Hans Joachim unter dem Titel "Immer wieder Dezember" aufgeschrieben. Am Donnerstagabend hat die Autorin ihr Buch im Begleitprogramm zur Buchmesse "Leipzig liest" vorgestellt. Der Veranstaltungsort, das Museum in der "Runden Ecke" als frühere Bezirksverwaltung der Staatssicherheit, hätte nicht passender sein können.
"Der Mann, den wir liebten, mussten wir uns erst aus dem Herzen reißen", sagt Susanne Schädlich an diesem Abend. Dieser jahrelangen schmerzlichen Selbst-Operation hat sich die Autorin unterzogen, um eine Familienchronik, in der sich mehr als 35 Jahre deutsch-deutscher Geschichte spiegeln, vorzulegen. Obwohl darin fortwährend von zerstörten Lebensläufen, missbrauchtem Vertrauen und unerhörter Niedertracht die Rede ist, blickt die Autorin kühl in den Abgrund der Vergangenheit. Für Hass, Entsetzen, Zorn, Fassungslosigkeit ist hier kein Platz; die eigene Betroffenheit hat schon die Form der Verarbeitung erreicht.
Alles fängt 1976 an an: Die Schädlichs wohnen in Berlin-Köpenick, "im Märchenviertel", wie es die Autorin nennt. Eine größtenteils behütete Kindheit wird hier geschildert. Aufregend ist es, wenn die Freunde der Eltern sich um den Familientisch versammeln. Sarah und Rainer Kirsch, Günter Kunert, Bernd Jentzsch, Klaus Schlesinger, Bettina Wegner und Elke Erb lesen, diskutieren. Aus West-Berlin kommen Günter Grass und Hans Christoph Buch herüber. Karlheinz Schädlich als IM ist bei diesen sorgfältig ausgewählten Runden nicht dabei. Aber er nutzt den Namen seines Schriftsteller-Bruders, um sich das Vertrauen der anderen zu erschleichen, sie zu manipulieren und zu denunzieren. "Am Ende der DDR umfasste seine IM-Akte sechs Bände mit 1 200 Seiten", erzählt Susanne Schädlich nach der Lesung. Nach Wolf Biermanns Ausbürgerung 1976 aus der DDR unterzeichnen Künstler einen Protest-Appell an die Regierung. Der Autor Hans Joachim Schädlich gehört dazu; fortan gibt es ein Veröffentlichungsverbot für ihn und keine Möglichkeit, die Existenz seiner Familie zu sichern. 1977 kann Hans Joachim Schädlich mit seiner Frau Krista sowie den Töchtern Susanne und Anna gen Hamburg in den Westen ausreisen.
Aber der lange Arm des Stasi-Onkels reicht auch dorthin. Es sind die Erlebnisse einer damals Zwölfjährigen, die die Autorin in ihrem Bericht rekonstruiert. Diese konfrontiert sie mit Zitaten aus Stasi-Akten, späteren Gesprächen mit Eltern, Freunden und Autoren, eigenen Eindrücken aus der Gegenwart und verknüpft das zu einer - trotz mehrerer sprachlicher Schludereien - spannungsvollen Dokumentation. Die Motive ihres Onkels für sein Handeln interessieren sie dabei kaum.
Natürlich ist die Geschichte der Familie Schädlich exemplarisch für viele ihrer Art, bei denen Liebe, Zuneigung und Sympathie ausgenutzt worden, um ein Unrechtssystem am Leben zu halten. Aber Verrat und die Wunden, die sich daraus ergeben sind immer individuell und konrekt. "Er war der einzige männliche, erwachsene Gesprächspartner, den ich hatte. Er war für mich wie ein zweiter Vater", schreibt die Autorin.
Ihren Onkel hat Susanne Schädlich seit der Aufdeckung seiner Spitzeldienste für die Stasi nie wieder gesehen.
Susanne Schädlich: Immer wieder Dezember, Droemer, 240 S., 16,95 Euro.