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Das Ulkige im Entsetzlichen Brigitte Kronauer ist mit 78 Jahren gestorben

Von Judith von Sternburg 24.07.2019, 08:30
Die Schriftstellerin Brigitte Kronauer ist tot.
Die Schriftstellerin Brigitte Kronauer ist tot. dpa

Hamburg/Stuttgart - Keiner und keine schrieb in der Gegenwart wie sie. Das Verspielte und das Existenzielle, die Genauigkeit und die Beiläufigkeit, der große Bogen einer genialen Konstruktion und das glitzernde Fragmentlein stehen nicht nebeneinander, sondern werden eins in ihren Geschichten. So ist das auch jenseits der Literatur. Es war immer wieder spektakulär, es bleibt spektakulär, wie Brigitte Kronauer die erheblichste Kunstfertigkeit mit lebensnaher Situationskomik und dem läppischen Missgeschick des Augenblicks verband – denken Sie an ihre Schilderung einer grauenhaft missglückenden Lesung in „Zwei schwarze Jäger“, die man heute Abend einmal wieder in Ruhe lesen könnte.

Brigitte Kronauer wusste von drei frühen Schocks zu erzählen: Mit drei stürzte sie in den Wolfgangsee und hätte ertrinken können. Als sie vier war, bebte die Erde, sie wusste nicht, dass das die amerikanischen Panzer waren, die den Weltkrieg beendeten, keiner sagte es ihr. Der Aufbau eines Lasters fiel schließlich auf die Siebenjährige, was sie ohne größere Verletzungen überstand. Kronauer konnte davon erzählen, konnte zumindest von den Erinnerungen daran erzählen. Und davon , dass ihre Mutter sich ganz anders daran erinnerte, die Mutter, die sie als ihre „Lehrmeisterin im Erzählen“ sah und in ihrem Debütroman „Frau Mühlenbeck im Gehäus“ porträtierte.

Die Schocks erinnern an Paul Austers Blitzeinschlags-Erlebnis und dessen literarische Umsetzung in „4 3 2 1“, und sie leuchten auch in Kronauers Romanen auf, wenn in „Der Scheik von Aachen“ der Unfalltod eines Kindes im heimischen Vorgarten auf Jahrzehnte weggeschwiegen werden muss, weil die Mutter die Erwähnung nicht ertragen würde. „Schon bei dem Wort Hofgang, sogar bei Walfang wurde man rot vor Schreck.“ Dass das Entsetzliche eine ulkige, ja possierliche Seite hat, ist nicht zu leugnen. Aber niemand erzählt das so frech und durchaus böse und trotzdem ohne Denunziation ihres Personals wie Kronauer. Auch andere frühe durchschlagende Erlebnisse – etwa die späte Heimkehr des Vaters aus der Kriegsgefangenschaft 1948, schon das Anfassen sei ihr „gruselig“ gewesen, sagte Kronauer – mögen zur dunklen Grundierung ihrer Geschichten beigetragen haben. Das Ironische, Gewitzte komme, so Kronauer, wiederum von der Mutter. Auch ist Kronauer ja selbst Essenerin.

Dort wurde sie 1940 geboren, und im Ruhrgebiet wuchs sie auch auf. Einem Studium der Germanistik folgten einige Jahre als Lehrerin. Seit 1974 wohnte sie in Hamburg und längst schrieb sie Geschichten und Hörspiele, als sie mit „Frau Mühlenbeck“ jäh Aufmerksamkeit erregte. Zehn weitere Romane folgten, spätestens von „Teufelsbrück“ an, im Jahr 2000, fand das nicht mehr in einem exklusiven Zirkel statt. „Teufelsbrück“, „Verlangen nach Musik und Gebirge“ (2004), „Errötende Mörder“ (2007), „Zwei schwarze Jäger“ (2009), ein Meisterwerk folgte auf das andere – und einige dieser Titel setzten sich auch als Wendungen im Gedächtnis fest mit ihrer Poesie und ihrer Einmaligkeit –, bevor „Gewäsch und Gewimmel“ (2013) wie eine kleine Entspannung wirkte. Was bei Kronauer eine kleine Entspannung sein mag, ist bei anderen das Buch ihres Lebens. „Der Scheik von Aachen“ (2016) zeigte zuletzt noch einmal die großformatige Erzählerin in einer schicksaldurchglühten, schwer romantischen, unheimlich ironischen und herrlich überspannten Liebesgeschichte.

Dass Brigitte Kronauer eine Meisterin der ausgebufften Liebesgeschichte war, mit Frauen, die maßlos, wunderlich, unvernünftig, aber irgendwie auch unauffällig liebten, erschloss sich vielleicht nicht jedem.

Alle wichtigen Literaturpreise

Anders als ihr selbst war der Ruhm Kronauers ihren Lesern nie recht genug. Ihre Bücher hatten immer noch mehr verdient, weil sie noch mehr waren, und dies obwohl sie neben praktisch allen wichtigen deutschen Literaturpreisen im Jahr 2005 auch den Georg-Büchner-Preis erhielt. Dass sie dazu selbst eine lebenslange Leserin war, zeigte sich an den zahlreichen Poetikdozenturen, die sie übernahm (die bedeutendste in Frankfurt war leider nicht dabei) und an den tiefgreifenden Essaybänden „Poesie und Natur“, „Natur und Poesie“, die zum 75. Geburtstag Ende 2015 erschienen.
Von Schocks war die Rede (auch ihren Figuren wusste sie welche zu schaffen), wohingegen Kronauer selbst sich von der Tatsache ihrer Sterblichkeit in einem großen Interview mit der „FAZ“ im Frühjahr 2018 wenig schockiert zeigte. „Was mich stören würde, wäre, wenn die Kraft zu schreiben nachließe. Aber das ist nicht der Fall.“
Was weiß man schon über andere Menschen, aber jeder noch so flüchtige Kontakt zu der großen Schriftstellerin war von derartiger Zugewandtheit und Noblesse geprägt, dass es das Niveau sofort anhob. Ihre winzigen, beim Wiederlesen erneut immens abgründigen Alltagsgespenstergeschichten, die vor fünf Jahren in der Weihnachtsbuchbeilage der „Frankfurter Rundschau“ erschienen, schickte sie flink und freundlich, als wäre es nichts weiter. Kleinode einer Könnerin, die verschwenderisch damit umgehen kann, weil sie ihr nicht ausgehen.

Am Montag ist Brigitte Kronauer im Alter von 78 Jahren gestorben, wie Klett-Cotta, ihr Verlag von Anbeginn an, am Dienstag mitteilte. Ihr neues Buch erscheint nun früher als geplant, am 8. August, es heißt „Das Schöne, Schäbige, Schwankende“, ein guter Kronauer-Titel. Wer sich auf den Band sehr gefreut hatte und nicht dachte, es würde der letzte sein, ist für einen Moment atemlos vor Traurigkeit.