Bon Iver: Songs vom Ende der Welt
Hamburg/dpa. - Mit seinem umwerfenden Debüt-Album «For Emma, Forever Ago» überraschte dieser Tage der US-Musiker Justin Vernon.
Unter dem Pseudonym Bon Iver veröffentlicht der 27-Jährige eine Sammlung zuweilen mystisch, überwiegend erdig und gelegentlich sogar sakral anmutender Indie-Folk-Stücke, die er in der Abgeschiedenheit einer Waldhütte in Wisconsin allein geschrieben und aufgenommen hat.
Spricht man Justin Vernons Pseudonym Bon Iver französisch aus, kommt man dem Ursprung des Namens auf die Schliche. «Bon Hiver» lautet die korrekte Schreibweise - «Ich wünsche einen schönen Winter» die sinngemäße Übersetzung. Verwendung findet dieser Gruß zum Beispiel im Norden der USA und in Kanada anlässlich der ersten Schneefälle. Vielleicht hat sich Justin Vernon mit genau diesen Worten von Familie und Freunden und der Zivilisation an sich verabschiedet, als er finanzielle und persönliche Probleme hinter sich ließ, um vier Wintermonate des Jahres 2006 in einer abgeschiedenen Hütte in den Wäldern im Norden des US-Bundesstaates Wisconsin zu verbringen - allein.
Welche Dinge man in die totale Einsamkeit mitnehmen würde, ist eine klassische Frage, die für die meisten Menschen nicht leicht und zweifelsfrei zu beantworten ist. Justin Vernon hat sich für seine Musikinstrumente entschieden: einige Mikrophone, eine Gitarre, zwei Drums, ein paar Effektgeräte und seinen Computer. Dass sich außerdem wohl auch eine Schusswaffe in Vernons Gepäck befunden haben muss, verrät die Künstlerinfo, in der Vernons Plattenfirma 4AD beschreibt, wie der musikalische Einsiedler sich durch die eigenhändige Jagd auf Wild verpflegt und durch den Verkauf des überzähligen Fleisches Instrumentenreparaturen finanziert.
Auf den durchschnittlichen Stadtmenschen muss dieses Szenario, ebenso wie der Blick durch eine beschlagene Fensterscheibe auf kahle Baumwipfel und einen farblosen Winterhimmel, der das Cover des Albums ziert, wild und ein bisschen gefährlich, vielleicht sogar trostlos wirken. Für Justin Vernon allerdings scheint dieses einsame Leben in erster Linie eine Reise ins eigene Ich angeregt zu haben, zumindest hört sich seine Platte «For Emma, Forever Ago» ganz danach an. Bon Ivers Songs strotzen nur so vor den Stimmungen und Gefühlen, die man erwartet, wenn man für eine ganze Weile nur zwei Einflüssen ausgesetzt ist, nämlich der rauen, zuweilen feindseligen Natur und dem, was im eigenen Innern vor sich geht. Forschend klingen die Stücke auf Bon Ivers Debüt, emotionsgeladen und zugleich zerbrechlich, mysteriös bis hin zu sakral.
Eine weltabgewandte Atmosphäre überzeugend zu simulieren, große artifizielle Popmomenten erfolgreich durch eine berührende, organische Bodenständigkeit zu ersetzen, ist in jüngster Vergangenheit einigen folkigen Indie-Acts ausgezeichnet gelungen. Band Of Horses begeisterten unlängst mit einer ausgezeichneten Platte, Midlake malten auf ihrem Debütalbum märchenhafte Waldschrat-Szenen zwischen Songwriter-Einsamkeit und Classic-Rock-Bombast. Beide Bands haben sich die Wertschätzung zeitlos zu sein erworben. Justin Vernons Songs funktionieren andersherum: Sie evozieren nicht das Gefühl der Zeitlosigkeit, sie sind aus der Zeitlosigkeit entstanden, die sich einstellt, wenn ein Alltag nur durch zwei feste tägliche Termine, den Sonnenauf- und den Sonnenuntergang, bestimmt wird; wenn 12-stündige forschende, störungsfreie Sessions möglich werden.
«For Emma, Forever Ago» lässt sich als ein Tagebuch eines Daseins lesen, in dem außen wenig und innen umso mehr passiert. Mithilfe seines recht eingeschränkten Instrumentariums hat Jason Vernon auf simple Grundmelodien Soundideen geschichtet, die einem wohl nur in den Sinn kommen, wenn die Geräusche des Waldes und der eigene Bewusstseinsstrom die einzigen Klänge sind, die einen durch den Tag und die Nacht begleiten. Wenn man genau hinhört, dann knistert und rauscht es zwischen den klaren Gitarrenmelodien, der Marschtrommel und Justin Vernons häufig zu seelenvollen Falsett-Chören geschichteten Gesangsspuren. Es pfeift und rumpelt. Es klingt nach Wald, während Vernon in seinen Texten darauf verzichtet, Lagerfeuergeschichten oder Tagebuchanekdoten zum Besten zu geben, sondern impressionistische Bilder in fahlen Winterfarben zeichnet. Am Ende fühlt man sich zuweilen fast wie jemand, der heimlich durchs Schlüsselloch in Bon Ivers einsame, introspektive musikalische Welt blickt und sich jede Mühe gibt, dabei kein verräterisches Geräusch zu verursachen, das dem Zauber den Garaus macht.