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Besatzung nach dem zweiten Weltkrieg Besatzung nach dem zweiten Weltkrieg: Das Russenkind

Von Ralf Böhme 21.03.2015, 13:40
Herkunft unklar und trotzdem das Leben gemeistert: Wolfgang Maertens hält in einer privaten Fotogalerie fest, wie sich die Bilder von ihm im Laufe der Zeit verändern.
Herkunft unklar und trotzdem das Leben gemeistert: Wolfgang Maertens hält in einer privaten Fotogalerie fest, wie sich die Bilder von ihm im Laufe der Zeit verändern. Andreas Stedtler Lizenz

Halle (Saale) - Russenkind. Ein Wort, das hakt sich fest. Erst recht bei Wolfgang Maertens. Er ist ein Betroffener. Russenkind - ein Kind, das von einem Russen abstammt. Nicht unbedingt ein böses Schimpfwort, aber bestimmt auch kein Kosename.

Er lebt inzwischen ganz gut damit, sagt er selbst. Aber manchmal tut es trotzdem weh. „Da ist so eine Wunde, die nie ganz abheilt“, sagt der 66-Jährige. Hin und wieder werden so Erinnerungen wach, an seine Kindheit in der Nachkriegszeit. Doch damit will er niemanden behelligen. So weiß auch keiner seiner Nachbarn im Dorf, dass Maertens nicht schon immer Maertens gewesen ist - eine Folge seiner ungeklärten Herkunft und des wechselnden Aufenthaltes bei Pflegeeltern und in Heimen. „Ich hatte schon viele Namen.“

Nun als Rentner macht sich der gebürtige Hallenser noch einmal auf die Suche nach seinem russischen Vater. Ob sie ein gutes Ende findet, ist ungewiss. Sicher ist ihm zufolge nur eines: Sein Vater, das ist ein hoher Offizier der Roten Armee gewesen - nach 1945 ein Sieger, stationiert in Halle.

Wer Maertens besucht, merkt schon an der Tür: Hier ist jemand zu Hause, der geordnete Verhältnisse liebt. Solide das Hoftor, ein blitzblankes Namensschild. Mit der Klingel erwacht selbst ein sibirischer Bär aus dem Winterschlaf. Der Gastgeber, untersetzt mit einem Hauch von Unverwüstlichkeit, mag und macht keine Schnörkel. „Namen sind für mich nur Schall und Rauch“, sagt er. Ob Iwan, wie ihn sein Vater - der Russe - vielleicht nennt, oder Wolfgang, so der Eintrag in der Geburtsurkunde: „Entscheidend ist immer, was du tust oder auch lässt.“

Gemessen daran geben seine Eltern, sagt Wolfgang Maertens, für ihn kein besonders gutes Bild ab. Sein Vorwurf wiegt schwer und kann ein Gespräch auch belasten: Der Vater sei abgetaucht, die Mutter habe das Verhältnis verschwiegen. Beides mit Folgen, die in der Seele eines Kindes wohl immer Spuren hinterlassen.

„Ich bin Jahrgang 49“

„Ich bin Jahrgang 49“ - das ist das Gründungsjahr der DDR. Zu dieser Zeit sind Russen im Osten alltäglich und allgegenwärtig. In Halle kampieren die Rotarmisten zu Tausenden in alten Kasernen an der Dölauer Heide. Ranghohe Offiziere hingegen wohnen inmitten der Stadt, viele in beschlagnahmten Villen in der Nähe des Steintor-Varietés. Dort gibt es auch eine Kantine, mit deutschen Hilfskräften. „Meine Mutter, damals kaum 20, kocht und kellnert wie etliche andere Frauen auch.“

Ausschließlich junge, attraktive Frauen hätten so eine Anstellung bekommen. So berichten es ihm später mehrere Zeitzeugen. Und einen Grund, ein derartiges Angebot abzulehnen, gibt es praktisch nicht. „Die Verlockung war gewaltig“ - und in den Hungerjahren nach dem Krieg nicht selten sogar überlebenswichtig. Das akzeptiert Maertens inzwischen. Die üppigen Essensreste aus der Russenkantine machen viele Mäuler satt. Auch deshalb, so weiß er heute, gilt seine spätere Mutter damals als ungemein beliebt im Verwandten- und Bekanntenkreis. Die Schwangerschaft setzt dem Ganzen indes ein jähes Ende.

Längst weiß Maertens, dass er ein ungewolltes Kind gewesen ist. „Ich muss wohl dem lieben Gott dankbar sein, dass ich lebe.“ Ob und welche Rolle sein russischer Vater bei Abtreibungsversuchen spielt, lässt sich im Nachhinein nicht mehr aufhellen. Nur soviel ist gewiss, auch die Mutter erleidet eine Tortur. Offenbar unter Druck gesetzt, leugnet sie fortan die Beziehung zu dem Besatzer. Die junge Frau verliert sofort die Stellung im Offizierskasino. Ihre entsprechenden Papiere werden eingezogen.

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Auch ostdeutsche Stellen greifen in das Geschehen ein, so Maertens. So erfolgt die Entbindung auf einer speziellen Entbindungsstation. Dort erblickt der Junge, quasi unter Beobachtung von Geheimdienstleuten, das Licht der Welt. Offenbar übersteigt das die Kräfte und den Willen der Mutter. Sie gibt ihr unerwünschtes Kind - ohne Namen - zur Adoption frei. Es kommt ins Kinderheim und heißt dort, auf den ersten Blick nicht nachvollziehbar, erst einmal Wolfgang Bäcker. Eine Spätfolge: Manchmal zieht es Maertens noch heute an frühe Orte.

Dazu gehören die Russen-Villa des Vaters - heute eine Seniorenresidenz. Oder der Rentner streift auf der Suche nach sich selbst um ehemalige Kinderheime, zum Beispiel in Dölkau (Saalekreis), inzwischen ein Firmensitz. Solche Ausflüge sind ihm dann immer Anlass, die aus Kindheitstagen verbliebenen wenigen Schwarz-Weiß-Fotos anzuschauen. Neues könne man da nicht entdecken, sagt er. „Nur träumen, wie es hätte sein können“ - wenn sich sein Vater wenigstens ein einziges Mal aus Sibirien gemeldet und seine Mutter ihr großes Geheimnis nicht mit ins Grab genommen hätte.

So ein Rückblick kostet Kraft. Er bringt nicht nur Licht, auch Schatten in die Erinnerung. Gut, sagt er, keinen einzigen Tag habe er hungern müssen. Und die allgegenwärtige Strenge? Das sei nichts, was ihm geschadet hätte. Doch befragt nach einer Bezugsperson, an die er sich besonders gerne erinnere, muss Maertens passen. Auf Anhieb fällt ihm da niemand ein.

„Wer bin ich eigentlich?“

Jahrzehnte danach fühlt er sich noch hin- und hergerissen, muss sich anstrengen, Tränen zu unterdrücken. Die Frage, die ihn bewegt: „Wer bin ich eigentlich?“ Nebel um seine Herkunft gibt es bereits, als er als Kleinkind in seine erste Pflegefamilie kommt. Ein kinderloses, für damalige Verhältnisse wohlhabendes Ehepaar. Sein Pech: Es sind Schieber, sie handeln illegal mit Fotoapparaten und Pelzmänteln.

Wenige Wochen vor dem Mauerbau im August 1961 kommen sie ins Gefängnis, in den berüchtigten „Roten Ochsen“ in Halle. Maertens, gerade Mitglied der sozialistischen Pionierorganisation geworden, versteht die Welt nicht mehr. So tauscht er den Namen der Pflegeeltern gegen einen anderen. Schwer sei ihm das nicht gefallen. „Ich hatte schon eine raue Schale.“

Dennoch, sagt er heute, das Selbstbewusstsein muss erst lange wachsen. Seine Biografie unterscheidet sich nicht sehr von der anderer: eine gute Lehre als Werkzeugmacher, bei der Armee fährt er einen russischen Panzer, dann Hochzeit, Kind und Wohnung. Nach der Wende 1989 ein gelungener Neustart als Außendienstler. Und trotzdem, kommt die Rede auf die Nachkriegszeit und die Russen, setzt alles aus. Es strengt ihn an, sagt er, Filme über die Besatzungszeit zu sehen.

Bücher, die sich dem Thema widmen, nehme er „nur unter Schmerzen“ in die Hand. Anders ist das bei seinem Foto-Album, das er gerne präsentiert. Es enthält auch alle vorhandenen Passbilder von ihm: Schüler, Jugendweihling, junger Vater, Bootsbesitzer, Fuhrparkleiter, Verkaufsvertreter, Taxifahrer, Rentner - eine lange Reihe. Maertens: „Ich staune jedes Mal selbst. Das alles bin ich, das Russenkind.“ (mz)

Für Maertens ein kostbares Foto. Darauf ist seine Mutter mit einem Mann zu sehen. Das Geheimnis um den russischen Vater nahm die Frau mit ins Grab.
Für Maertens ein kostbares Foto. Darauf ist seine Mutter mit einem Mann zu sehen. Das Geheimnis um den russischen Vater nahm die Frau mit ins Grab.
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