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Benjamin von Stuckrad-Barre Benjamin von Stuckrad-Barre: Stunde um Stunde gibt er Heimatkunde

Von Christian Eger 14.02.2002, 14:21

Halle/MZ. - Da springt Benjamin von Stuckrad-Barre auf,eilt im "Zimmer frei"-Studio zum Bildschirm,der Charlotte zeigt, geht in die Knie undsiehe da: Narziss küsst Goldmund.

Charlotte muss ja helfen. Kaum ein zweiteröffentlicher Schriftsteller steht hierzulandeunter so ressentimentgeladener Beobachtungwie der Göttinger Pfarrerssohn, Hochglanz-Hans-Dampfund Entertainer Benjamin von Stuckrad-"Ichbin erst 27"-Barre. Die intellektuelle Volksfürsorgekann kaum einen Benji-Satz ohne Warnhinweisgeradeausreden: Schriftsteller? Ho, ho! Schriftstellerdarsteller!Auch im halleschen Steintor wisperte es, Mittwochabend,zehn Minuten vor Stuckrad-Barre: "Zimmer frei"gesehen? Hmm. Eitler Kerl! Ach.

Seit zwei Wochen ist Stuckrad-Barre auf Tour,fast Tag für Tag, und noch acht Wochen solles dauern, Auftritte in Wien und Salzburginklusive. Nun also Halle und die Steintor-Guckkastenbühnezeigt sich von ihrer weihnachtlichsten Seite:ein Glühlämpchenregen auf schweren, dunkelblauenVorhängen, der Vorlesetisch mit rotem Samtüberworfen, im Hintergrund klackern Deutschland-Dias:Hellmuth Karasek, Kritiker, plautzbäuchigim privathäuslichen Ausnahmezustand, FranzJosef Wagner, "Bild"-Kolumnist, "der schmutzigealte Mann von Seite zwei" (Stuckrad-Barre).Das "Deutsche Theater", das Benjamin von Stuckrad-Barrein Halle präsentiert, sieht aus wie ein Adventskalender.Hinter jedem Türchen, das er öffnet, haustein Promi, der noch nicht weiß, was ihm beschertwerden soll.

Stuckrad-Barre will vor allem gute und gutaufgeklärte Laune bescheren. Sein Deutschlandwirkt wie eine Weiterung seines GöttingerJugendzimmers: schöne Musik, schräge Postermotive,lässige Menschen mit denen man locker eineprima Zeit verbringen kann - wenn die Bösewichtererstmal eins aufs Maul bekommen haben.

Die hallesche Bühne entert Stuckrad-Barreso schlaksig und fahrig wie auf stürmischerSee, setzt sich an den Samttisch, plaudertvon seinem Tag im Händelhaus und Beatlesmuseum,verliest die Namen hallescher Schill-Fansaus einem Werbeblatt der Partei, trinkt nicht,sondern zieht Wasser aus kleinen Plastikflaschen,so als saugte da ein Vakuum. Dann liest er:von Homeshopping, Pizza-Dienst, Manfred Krugund Drogenfahndung. Das ist stets scharf amSchaum der Gegenwart entlangbeobachtet, dieGags pustet er im Sekundentakt vor sich her.Man will Stuckrad-Barre nicht vors Mikro geraten,sein Auftritt aber ist gemütlich fernab vonblöder Gemütlichkeit. Das muss ein Autor erstmalschaffen: rund 700 applaudierende Menschen!Endlich hat Stuckrad-Barre ein Thema gefunden,das als Projekt taugt: "Deutsches Theater"(KiWi, 285 S., 12,90 Euro). Die Welt als Bühnealso, vollgestellt mit notorisch öffentlichkeits-geilenRampen-Ludern, die eben nicht Naddel oderJenny, sondern Schröder, Gysi oder Westernhagenheißen.

Wenn Stuckrad-Barre vorträgt, hört man diePointen-Mechanik seiner Texte schnurren, dakann die Zeit schon mal lang werden, so naheam Kabarett, so didaktisch ist das. Stuckrad-Barreist ein moralistischer Empörer. Das unterhält,ohne klüger zu machen. Denn dass Blödmännersich tatsächlich blöde verhalten, ahnte manja dunkel. Trotzdem entzücken Stuckrad-BarresWachheit und Wut-Mut.

Drei Stunden mit Pause dauert das Show-Lesenund Deutschland wird dabei immer wohnlicher.Am Ende klacken, nach Aufforderung, ein paarFeuerzeuge. Stuckrad-Barre kann, was JurekBecker, selig, von sich verlangte: ein bisschenRemmidemmi machen, damit ein paar wenigerLeute an der Schlafkrankheit leiden. Stuckrad-Barre -ein Schriftsteller? Ja, was denn sonst? Vorallem ein lichter Zeitgenosse, mal ohne sozialdemokratischenSchnauzbart, also springlebendig.

Im Rahmen der Triliterale liest Max Goldtam Montag, 18. 2., 20Uhr im Steintorvarieté.