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Ausstellung in Berlin Ausstellung in Berlin: Der urbane Niedergang ist kein Problem des Ostens

Von Günter Kowa 03.09.2004, 19:57

Berlin/MZ. - Das ist nur eine von den Erkenntnissen, die man aus einer Ausstellung mitnimmt, die jede Erwartung durchkreuzt. Vor allem die, dass das Phänomen vorrangig mit Statistiken, bestenfalls mit den kartografischen Instrumenten der Stadtplaner anzufassen wäre.

Die international besetzte Projektgruppe, die mit beträchtlicher Förderung der Bundeskulturstiftung das Thema über mehrere Jahre und verschiedene Medien verfolgt, nimmt eine betont kulturelle Sichtweise an. Die vier Städte Detroit (USA), Manchester (England), Ivanovo (Russland) sowie die Region Halle / Leipzig stellen sie in einen internationalen, exemplarischen Vergleich. Unterwegs in die Brachen und Abrissviertel stoßen sie auf die erstaunlichsten Vorgänge und einen Strauß ungewöhnlicher Akteure, die dem Wort "Schrumpfung" ein Gesicht geben.

So wird denn auch deutlich, in welche Relationen das Entleeren der ostdeutschen Städte zu setzen ist. Einerseits kommt er spät und unvermittelt. Detroit traf es seit den 50er Jahren und die Triebfeder ist der Rassismus. Im Dunstkreis der Ford-Werke ließen die in ihre Einfamilienprärien geflohenen Weißen die Armen und Schwarzen sowie tausende aufgegebener Wohnhäuser zurück. In den 60er Jahren verwaiste in Manchester der Hafen und mit ihm die Innenstadt. Andererseits gibt es dieses vergessene Ivanovo, die Stadt der Textilfabriken nördlich von Moskau. Dem wirtschaftlichen Zusammenbruch, der nach 1990 den gesamten Osten befiel, war die hundertprozentig monostrukturierte Stadt hilflos ausgeliefert.

Auf Ursachenforschung beschränkt sich die Ausstellung aber nicht, auch wenn sie diese auf stilisierten Fieberkurven des Niedergangs komprimiert und pointiert zusammenträgt. Greifbar verdeutlicht sie vielmehr die (sub-)kulturelle Verwandlung der Städte. Mag die Grundstimmung auch melancholisch sein, so treibt der Niedergang doch Blüten und weckt Kräfte der Selbstbehauptung.

Die gastgebenden Berliner "Kunst-Werke" schaffen mit ihrer Hinterhofatmosphäre dazu auch den passenden Rahmen. Eine komplette Etage für jede Stadt gibt Raum, um Facetten mosaikartig in Videos, Objekten und Texten zu inszenieren. Dies sind Stadtführungen durchweg der anderen Art.

In Detroit sind die Exzesse der Schrumpfung zu betrachten: die rituell zu Halloween von Gangs abgefackelten leer stehenden Häuser. Auf den Brachen dazwischen floriert inzwischen eine urbane Landwirtschaft. Das Projekt des Künstlers Tyree Guyton, die Hausruinen einer ganzen Straße zu Großplastiken aus Müll auszuformen, brachte ihm Feindseligkeiten mit der Stadtverwaltung ein, die die Kunstobjekte planieren ließ.

Manchesters Erbe der Hafen- und Industriestadt, ihre Relikte, Nischen, Inseln inmitten bereinigter Viertel der "Slum Clearances" der 60er und 70er Jahre führen zu mannigfachen Beobachtungen im Detail. Der Ausblick ist die Dienstleistungsgesellschaft in ihrer sterilsten Form: die Bildschirmarbeitsplätze der Call Centers.

Ivanovo offenbart sich als ein Ort, der reine Überlebensstrategien erfordert. Sie manifestieren sich in den skurrilen Gebrauchsgegenständen aus Wegwerfmaterialien ebenso wie in der Eigenbedarfwirtschaft der Gemüsezucht im Schatten der Plattenbauten. Zu den anrührendsten Dokumenten gehört eine Serie von Video-Interviews, die Ines Lasch mit den Bewohnern eines ehemaligen Arbeiterwohnheims geführt hat. Nach dem Konkurs ihrer Textilfabrik sind sie auf Improvisationstalent angewiesen und entwickeln neue Energien, um ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.

Und wie schrumpfen Halle und Leipzig in den Augen der Kuratoren? Es ist die Melancholie, die auf der obersten Etage dominiert, in schaurig-schönen Untergangsszenarien auf großformatigen Fotos, Leuchtdias und einem Silberhöhe-Video von Schneestürmen in ausgehöhlten Elfgeschossern. Ist hier niemand mehr daheim? Schrumpfen ist eben auch bittere Realität.