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Bücher stehen unter Raub-Verdacht Anna Amalia Bibliothek in Weimar: Leihverkehr mit Buchenwald

Von Christian Eger 04.08.2016, 18:24
Im Tiefenmagazin: Bibliothekar Jürgen Weber mit 1933 verbotener Kautsky-Schrift.
Im Tiefenmagazin: Bibliothekar Jürgen Weber mit 1933 verbotener Kautsky-Schrift. dpa/Jan Woitas

Weimar - Im November 1942 erhält die Thüringische Landesbibliothek in Weimar Leserpost aus Buchenwald. Der SS-Hauptsturmführer Waldemar Hoven mahnt, dass er zwei bestellte Bücher „noch nicht“ (unterstrichen) erhalten habe. „Experimentelle Untersuchungen über Rußinhalationen bei Tieren“ und einen ähnlichen Titel zur Sache. „Für eine möglichst baldige Beschaffung wäre ich dankbar.“

Hoven ist seit Juli 1942 Standortarzt im Konzentrationslager Buchenwald. Im Dienst der chemischen Industrie führt er Versuche mit Impfstoffen durch, tötet Hunderte Häftlinge mit Injektionen. Mit einer Schrift über die Behandlung von Tuberkulose wird er 1943 an der Universität Freiburg promoviert. Heute weiß man, dass der 1948 hingerichtete stellvertretende Leiter der Abteilung Fleckfieber- und Virusforschung des Hygiene-Instituts der Waffen-SS in Buchenwald die Dissertation nicht selbst geschrieben hat. Zwei Häftlinge hatten diese Arbeit zu erledigen. Ein Betrug, für den die Bücher so „dringend“ benötigt worden sind.

Die Bibliothekare machen Hoven zwar darauf aufmerksam, dass medizinische Fachliteratur nicht zu den Sammelschwerpunkten gehöre, gehen aber davon aus, „daß es sich um unaufschiebbare wissenschaftliche oder kriegswichtige Arbeiten“ handelt. 1944 beginnt man dann selbst mit dem Ankauf von Fachliteratur zur Fleckfieber-Forschung. Anstoß nehmen die Bibliothekare nur daran, dass die „Boten“ aus Buchenwald ihr Haus außerhalb der „bekannten Leihzeiten“ aufsuchen. Das müsse geändert werden: „Nur dann kann eine geordnete Abwicklung der Leihgeschäfte stattfinden.“

Die Thüringische Landesbibliothek ist heute unter dem Dach der Herzogin Anna Amalia Bibliothek (HAAB) zu finden. 1969 war die 1920 gegründete Landesbibliothek, die bereits die Bestände der Weimarer Hofbibliothek vereinte, mit der Zentralbibliothek der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur (NFG) fusioniert und 1991 in Anna Amalia Bibliothek umbenannt worden. Mithin gehören zu den historisch interessanten Nutzern der Bibliothek nicht nur Goethe, sondern auch Hoven.

Die Bibliothekare, die bis 1945 die Geschäfte führten, sind vormalige Kollegen von Jürgen Weber, dem Stellvertretenden HAAB-Direktor. Der für die Bestandserhaltung und Sondersammlungen zuständige Bibliothekar gehört zu den Schrittmachern der Provenienzklärung und Rückerstattung von zwischen 1933 bis 1945 erworbenen Bibliotheksbeständen. „Die Leute, die sich gegenüber Hoven über die Nichteinhaltung der Öffnungszeiten beklagten“, sagt Weber, „das sind doch dieselben, die verbotene Buchbestände in Thüringen ausfindig gemacht hatten, die mit Hilfe der Polizei Bücher systematisch vernichteten, zensierten, wegsperrten oder raubten.“ Eine Tatsache, der sich die Bibliotheken in Deutschland großenteils nur sehr zögernd zuwenden. Man begreift sich nach den Bücherverlusten im Zuge des Zweiten Weltkrieges vor allem als Opfer.

Damit ist es in Weimar seit 1997 vorbei. Jedes nach 1933 erworbene Buch kommt auf den Prüfstand. Denn auch wenn den Juden im August 1941, also vor 75 Jahren, der Besuch von Leihbibliotheken verboten wurde, die ihnen geraubten Bücher sortierte man gerne in die eigenen Bestände ein. In den Jahren von 1939 bis 1945 stieg der Umfang der Landesbibliothek Weimar um ein Mehrfaches.

Es wurde zugegriffen. Etwa auf das Angebot des jüdischen Leipziger Unternehmers Arthur Goldschmidt, der 1936 gezwungen war, seine Sammlung von über 2 000 Almanachen der Goethe-Zeit für 2 000 Reichsmark an das Goethe- und Schillerarchiv zu verkaufen, von wo aus sie 1955 an die NFG kam. Der Archivdirektor Hans Wahl empfahl die Notlage Goldschmidts, der „natürlich Jude ist“, zu nutzen. „Unter diesen Umständen ist die Erwerbung eine außerordentlich günstige Angelegenheit“, schrieb er. Vor drei Jahren einigte sich die HAAB mit den Erben über die Restitution und den Ankauf der Sammlung für Weimar. Rund 3 500 NS-Raubbücher wurden bereits restituiert, etwa 12 000 bekannte oder bestätigte Verdachtsfälle warten auf Klärung. Seit 2008 ist die „Forschungssammlung NS-Raubgut“ im Aufbau, die Reste öffentlicher und privater Bibliotheken erfasst.

Jürgen Weber führt in das Tiefenmagazin der Bibliothek, eine Betonwanne unter dem Platz der Demokratie. Hier stehen die Reste von rund 250 Thüringer Arbeiterbibliotheken. Von den einst insgesamt 113 000 Bänden haben sich 620 in Weimar erhalten. Titel wie Lowitschs „Energie, Planwirtschaft und Sozialismus“ (1929) mit dem Stempel „SPD Ortsgr. Probstzella“ oder Kautskys „Sozialdemokratische Bemerkungen zur Uebergangswirtschaft“ (1918). Auf dem Einband pappt ein roter Punkt. Der wurde seit 1935 auf die verbotenen Titel geklebt und in der DDR beibehalten. Unter den Verdachts-Büchern stehen auch vier in grauem Schuber, die den Stempel „Bibliothek des Instituts für Sozialforschung Frankfurt a. M.“ zeigen, des 1933 aufgelösten Instituts von Horkheimer und Adorno. Bücher von Bergson, Dilthey, Stirner. Wie kommen die hierher? Wem gehören die? Fragen, die zu klären sind.

Bis Jahresende läuft das Projekt der Klassik Stiftung Weimar zur Erfassung der Bücher von 1933 bis 1940. Weit über 1 000 Titel haben sich bislang als NS-Raubgut erwiesen. Es folgt die Recherche bis 1945. Rund 6 000 Titel stehen unter Verdacht. „Das ist keine Projekt-, sondern eine Daueraufgabe“, sagt Weber. Auch Erwerbungen nach 1945 können Raubgut enthalten. Jüngst erst hatte er antiquarisch eine Schopenhauer-Ausgabe gekauft, die sich sofort als jüdisches Eigentum erwies. Mit Hilfe der Commission for Looted Art in Europe machte Weber die Erbin in New York ausfindig. Das Spuren lesen gehört zur Lektüre dazu. (mz)