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Angelika Klüssendorf Angelika Klüssendorf: Mädchen aus Ostberlin

Von CHRISTIAN EGER 28.09.2011, 17:50

Halle (Saale)/MZ. - Drei-, viermal ist im Roman "Das Mädchen" Erich Honecker zu sehen. Nicht leibhaftig, sondern als Bild an der Wand. Das Amtsstubenporträt, das in der DDR in all den Räumen hing, in denen der Hinbefohlene weder das erste noch letzte Wort haben sollte.

Auf der Polizeistation, in der Schule, im Kinderheim: Überall dort sieht das Mädchen den Staatschef mit der Techniker-Hornbrille. Blicke, die für das Kind ohne nähere Bedeutung sind. So wie die Beschreibung dieser Blicke für den Fortlauf von Angelika Klüssendorfs Roman äußerlich bleiben. Aber ganz ohne Ortsmarke kommt die Trostlosigkeit nicht aus. Der Roman braucht einen Absender.

Und eine Zeit: Das sind die 80er Jahre der DDR. Der Ort ist Ostberlin. Die Hauptfigur: das titelgebende Mädchen, dessen Leben vom zwölften bis zum 17. Jahr beschrieben wird. Mehr Existenz als Leben. Denn das ist die Situation: Die Mutter säuft. Sie quält das Mädchen und dessen jüngeren Bruder.

Die Kinder werden eingesperrt, ausgesperrt, geschlagen. Die einzige Form von Verbindlichkeit besteht darin, dass das Mädchen abends Bier heranzuschleppen hat. Der Vater kommt im Laufe des Romans abhanden. Fremde Männer tauchen auf und verschwinden, sobald sie bemerken, mit wem sie da das Bett teilen. Mit einer haltlosen Frau, die sich als Mitropa-Kellnerin durchschlägt, und die ihre Kinder misshandelt. Das ist das Einzige, worauf bei dieser Person Verlass ist: dass es irgendwann knallt.

Im DDR-Familiengesetzbuch fand sich die Formel, dass die Familie die "kleinste Zelle der Gesellschaft" sei. Angelika Klüssendorfs Roman entspricht im Bösen dieser Formel ganz, indem es diese belletristisch illustriert. Denn "kleinste Zelle" heißt ja, dass sich im Großen wiederholt, was im Kleinen die Regel ist. In diesem Fall: Gewalt, die sich nicht legitimieren muss. Entsolidarisierung, die sich fortsetzt, wo deren Gegenteil rhetorisch immer wieder beschworen wird. Das Jugendamt schaut nicht genau hin, Hauptsache die Fassade stimmt. In der Schule ist es genauso. Im Kinderheim auch, in dem das Mädchen vor der Jugendweihe landet. Die Kälte der Kernfamilie setzt sich fort in den Zellen der DDR-Gesellschaft. Man könnte zynisch "Gewaltenteilung" nennen, was Angelika Klüssendorf vorführt.

Auch wenn die heute in Berlin lebende Autorin im Osten kaum bekannt ist, weiß diese, wovon sie spricht. Zwar wurde Angelika Klüssendorf 1958 in Ahrensburg bei Hamburg geboren, siedelte aber bereits 1961 mit ihren Eltern in den Osten nach Leipzig über. Dort lebte die gelernte Zootechnikerin, die später im "VEB Starkstromanlagenbau Leipzig / Halle" und als Archivarin im Museum für Völkerkunde in Leipzig arbeitete, bis 1985: Dann reiste sie aus in den Westen. In ihren letzten DDR-Jahren hatte Klüssendorf Zugang in die literarische Szene gefunden. Gemeinsam mit einer Freundin gründete sie das Leipziger Untergrund-Literaturblatt "Anschlag".

Die Veröffentlichung des Romans "Das Mädchen" ist also auch deshalb von Belang, weil hier eine Schriftstellerin als - auch - ostdeutsche Erzählerin endlich im Osten sichtbar wird. Das ist bereits eine gute Nachricht. Und auch die: Klüssendorfs Roman gehört zu den interessantesten deutschen Büchern dieses Herbstes. Und - als ein ostdeutsches Buch gelesen - mindestens zu den besten der bislang 21 Nachwendeherbste zuvor. Ein Buch, das seine ostdeutsche Herkunft nicht ausstellt. Und tatsächlich wäre das geschilderte Grauen auch an anderen Orten denkbar. Entscheidend aber ist das: Als ein ostdeutsches Phänomen ist die hier vorgeführte Entsolidarisierung noch nie gezeigt worden. Das ist neu. Und radikal. Und eine Nominierung für die Shortlist des Deutschen Buchpreises wert.

Ein Buch der härteren ästhetischen und sozialen Gangart also. Ein Roman, der mit dem Wort "Scheiße" beginnt. Die fliegt durch die Luft, auf die Passanten einer Ostberliner Straße herab. Nach oben gehen die Blicke: "Schwefelgelb brennt die Sonne, und es regnet Scheiße, doch vom Himmel fällt sie nicht." Sondern aus den Händen des Mädchens, das am Fenster den Abort-Eimer leert; über Tage ist das Kind von seiner Mutter verlassen und eingeschlossen worden; die Toilette auf halber Treppe ist abgeschlossen.

Schon in dieser Szene hat man die Schonungslosigkeit ganz, mit der Angelika Klüssendorf das Geschehen abbildet - und die Gesellschaft drumherum. Die äußere Zeit steht still, die das Mädchen - schöner Einfall! - einmal einer Blinden beschreibt: "die Leute stehen Schlange vor dem Gemüseladen, drei russische Soldaten laufen hintereinander am Bäcker vorbei, vor dem Milchmann putzt ein Junge sein Fahrrad". Die Tagen schleppen sich hin: "Sie hat das Gefühl, die Stunden wären einzementiert..." Nichts entzieht sich einer Kontrolle; Schuld wird immer vorausgesetzt; wer aus der Reihe tanzt, wird eingesperrt. Von der Mutter im Kohlenkeller. Dort liest das Mädchen. Genießt die Stille. Und die Lust am Widerstand. Denn: "Freude ist etwas Wichtiges in ihrem Leben."

Aber nicht in dieser Prosa. Angelika Klüssendorf bietet keine Lektüre, die als Stimmungsaufheller dienen kann. Dafür viel Lakonie, wie der Klappentext richtig sagt. Vom dort attestierten "trockenen Humor" aber kann ernsthaft keine Rede sein. Eine Episode wird an die andere mehr gehängt als gefügt. Es fehlt dann doch etwas an sozialer Tiefenschärfe und an sprachlicher Plastizität. Alles das wäre notwendig, wenn man, wie die Autorin, einmal so richtig Schwarz in Schwarz malen will. Dass der Roman am Ende einen Zug ins Sentimentale nimmt, ist schade. Vor 20, ja 30 Jahren wäre dieses Buch ein Ereignis gewesen; heute muss man vergangenheitspolitisch bestaunen, wovon man lieber erzählerisch überrascht worden wäre.