Amüsantes Halbwissen: Das «Lexikon des Unwissens»
Kassel/dpa. - Johann Philipp Gustav von Jolly war ein kluger Mann. Er wurde schon mit 30 Jahren außerordentlicher Professor und entwickelte mehrere Präzisionsinstrumente.
1874 allerdings riet er einem jungen Studenten ab, Physik zu studieren, weil «in dieser Wissenschaft schon fast alles erforscht» sei, und es gelte, «nur noch einige unbedeutende Lücken zu schließen». Der Student war der spätere Begründer der Quantentheorie, Max Planck. In allen Wissenschaften gibt es nach wie vor unzählige ungeklärte Fragen. Ein neues Büchlein fasst 42 von ihnen höchst vergnüglich zusammen.
Das «Lexikon des Unwissens» stammt von Kathrin Passig, einer Journalistin, und Aleks Scholz, einem Astronomen - offenbar eine gute Mischung. Denn die Texte haben Substanz, sind dabei jedoch nie zu trocken. Sie unterhalten, sind aber nicht flach. Wer weder Physiker, Historiker noch Mathematiker ist, fühlt sich bei der Lektüre zuweilen gut an die Hand genommen und durch unbekannte Gefilde geführt.
Passig und Scholz sprechen ein paar Probleme an, von denen viele gar nicht wussten, dass es sie gibt. War jedem klar, dass es der Wissenschaft noch immer ein Rätsel ist, warum Klebeband klebt? Wusste man, dass noch kein Mensch weiß, warum Katzen schnurren? Ist tatsächlich allgemein bekannt, dass das Trinkgeld ein soziologisches Problem ist, das sich jeder Erkenntnis entzieht? Und das Experten auch nach Jahrtausenden noch rätseln, was Geld eigentlich ist, wie sein Kreislauf funktioniert und warum es bei Volkswirtschaften mal diese und mal jene Reaktion hervorruft?
Und erst das Problem der Körpergröße: Natürlich weiß jeder, dass wir immer größer werden. Aber warum waren Amerikaner früher größer als Europäer, wachsen aber seit dem Ersten Weltkrieg immer langsamer? Wenn es in den Genen steckt: Warum waren dann Westdeutsche während der Teilung größer als Ostdeutsche? Ernährung und Gesundheitsvorsorge könnten ein Lösungsansatz sein. Aber dann, schreiben die Autoren, müsste es doch irgendwo in den USA eine Gruppe Menschen geben, die sich die beste Nahrung und die besten Ärzte leisten könnten, und entsprechend größer wären. Aber die gibt es nicht. Trost für die Amerikaner: Zu groß ist ungesund. Bei den Norwegern jedenfalls sinkt die Sterblichkeit zwar zunächst mit zunehmender Körpergröße, steigt von 1,90 Meter an aber wieder an.
Passig und Scholz widmen sich «populärem Unwissen» wie der weiblichen Ejakulation, den Kugelblitzen und der Frage, warum manche Menschen völlig andere sexuelle Interessen haben als andere. Oder dem «Tunguska-Ereignis», das man vor ein paar Jahren noch ganz selbstverständlich «Tunguska-Meteorit» nannte. Aber wenn ein Himmelskörper diese Explosion, die der zehnfachen Menge aller im Zweiten Weltkrieg abgeworfenen konventionellen Bomben entsprach und im Umkreis von 50 Kilometern 60 Millionen Bäume umknickte, verursachte - warum hat man dann nicht die geringsten Überreste von ihm gefunden? Oder war es doch Methan, das aus Rissen im Boden ausströmte und sich entzündete? Niemand weiß es, auch Passig und Scholz nicht. Interessant ist ihr Beitrag dennoch.
Beantworten kann das Buch auch nicht, wer und warum 1945 den Berliner Nord-Süd-S-Bahn-Tunnel sprengte. Oder warum für fast alle Menschen Kratzen auf der Tafel unangenehm ist. Woher das rätselhafte Voynich-Manuskript stammt oder welche Form ein Tropfen hat. Der Werbespruch des Verlages «Das erste Buch, nach dessen Lektüre Sie garantiert weniger wissen als zuvor» ist nicht besonders einfallsreich. Viel besser passt Isaac Newton, den die Autoren zitieren: «Was wir wissen, ist ein Tropfen. Was wir nicht wissen, ein Ozean.»
Kathrin Passig, Aleks Scholz
Lexikon des Unwissens
Worauf es bisher keine Antwort gibt
Rowohlt Verlag, Berlin
244 Seiten, Euro 16,90
ISBN 978-3-8713-4569-2