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Alternativrock Alternativrock: Von wegen Geige

Von steffen könau 15.03.2013, 19:18
Maskenträger demaskierten die DDR-Kulturpolitik: AG Geige aus Karl-Marx-Stadt
Maskenträger demaskierten die DDR-Kulturpolitik: AG Geige aus Karl-Marx-Stadt carsten gebhardt Lizenz

halle/MZ - Gerade hat Familie Kummer wiedermal die Kulturszene aufgemischt. Diesmals sind es allerdings nicht Ina und Jan Kummer, neben Frank Bretschneider die beiden Gründer und Köpfe der Chemnitzer Art-Rock-Kapelle AG Geige, die Schlagzeilen machten. Sondern ihre Söhne Felix und Till, die mit einer Protestaktion ihrer Band Kraftklub gegen die Nominierung der Südtiroler Rockgruppe Freiwild für eine Auszeichnung mit dem Musikpreis „Echo“ aus ihrer Rolle als Rockstars traten und in der Echtwelt für Furore sorgten.

Gänzlich untypisch eigentlich für die Künstlerfamilie aus dem ehemaligen Karl-Marx-Stadt, deren Ursprung der Filmemacher Carsten Gebhardt in seiner Dokumentation „AG Geige – Ein Amateurfilm“ im Jahr 1986 ausmacht. Damals finden sich die beiden Kummers und der Sänger, Gitarrist und Keyboarder Frank Bretschneider zusammen, um der lähmenden Leere des grassierenden Staatsrocks schräge, ins Absurde spielende Klänge entgegenzusetzen.

AG hinter Masken

Die AG Geige, so benannt nach der DDR-typischen Abkürzung für „Arbeitsgemeinschaft“, verzichtet auf herkömmliche Instrumente, vor allem aber auf Geigen – Teil des Verwirrspiels aus rätselhaften Verweisen und obskuren Reminiszenzen, mit denen das um den Elektroniker Torsten Eckhardt erweiterte Quartett bald auf sich aufmerksam macht. Echt aber ist hier nichts, alles versteckt sich hinter Masken: Die Absicht, die Einsicht, selbst die Musiker, die Rabenköpfe tragen und von sich behaupten, sie seien gar keine.

Elektronik bestimmt den Sound, Elektronik allerdings, die die Bandmitglieder selbst zusammenbasteln, weil der volkseigene Handel dergleichen nicht hergibt. Die AG Geige klingt deshalb wie das westdeutsche Pendant Kraftwerk im Lagerfeuerformat, wie die US-Vorbilder The Residents als Spielzeugausgabe. Statt Musik gibt es Geräusche, statt Botschaften, wie sie die großen DDR-Rockbands im Dutzend bereithalten, erhält der Hörer hier unklare Anweisungen. „Alles soll nach Trickbeat klingen / Wenn du Angst hast: Trickbeat singen“, heißt es im gleichnamigen Stück. Bei „Ich glauben“ tönt der Chorus „Leder heißt die Zukunft / Leder das ist die Macht“. Dazu stampft ein Schlagzeug, die Orgel klingt wie ein Spielzeugspinett, der Sänger spricht mehr als dass er singt.

Für die DDR Mitte der 80er Jahre ist das unerhörte Musik. Dada die Texte, als New Wave verkleidete Musik voller Löcher, Brüche und Sprünge dazu. Noch auffälliger aber: Während die erste Generation des volkseigenen Pop sich entweder daran versucht hatte, auf das große, vom Staat überwachte und regulierte Kulturkarussell zu springen und die zweite sich in Opposition zur Zulassungsbürokratie und Spielgenehmigungsmafia versuchte, strafte die AG Geige den Machtapparat mit Nichtachtung.

Statt um einen Plattenvertag zu buhlen, erklärt sich das Quartett zu Amateuren und setzt seine künstlerischen Vorstellungen mit Bordmitteln um: Da sich die Band nicht als Musikkapelle, sondern eher als multimediales Künstlerkollektiv versteht, meidet sie die üblichen Konzerthallen, aber auch die als alternative Veranstaltungsorte des Rock-Underground dienenden Kirchen. Und tritt stattdessen bei Vernissagen und Kunst-Ausstellungen auf, begleitet von selbst gemachten Filmen und in Szene gesetzt mit wunderlichen Masken und Verkleidungen.

Kassette statt Platte

Auch die als Pflicht jedes Pop-Stars geltende Auseinandersetzung mit den Begrenzungen des sozialistischen Systems verweigert die Gruppe. Das erste Album „Yachtclub & Buchteln“ wird mangels Möglichkeit, beim Staatslabel Amiga eine richtige Schallplatte zu veröffentlichen, einfach auf Musikkassette herausgebracht. Die nimmt einen Weg zu ihren Hörern, den modernes Marketing heute als viral bezeichnen würde: Die paar Handvoll Originale werden überspielt und die Kopien weiter überspielt und überspielt…

Das zunehmende Rauschen der Aufnahmen gehört zum authentischen Style, die Mitteilung ist nur umso deutlicher zu hören: „Der kleine Idiot sitzt in der Post / Und liest meine Briefe“.

Aber kein Widerwort, nirgends. Höchststrafe für einen Staat, der sicher war, seine Gegner würden ihn angreifen, wo sie können. Bretschneider, die Kummers und Torsten Eckhardt hingegen ignorieren ihn nach Kräften. Zurückgezogen in eine Kunstwelt aus klirrenden, kratzenden Klängen, wie sie Tom Waits gelegentlich entwirft, singen sie sinnfreie Texte von „Leysegang Und Ich“, rezitieren wie im Westen die Band „Die tödliche Doris“ in „Das Scheusal“ minutenlang verstörende Kurzgeschichten oder schlenkern mit „Ich bin ihr Boy“ mal eben einen flotten kleinen Ohrwurm aus den Verstärkern.

Carsten Gebhardt, der nicht nur den Protagonisten von einst, sondern auch DDR-Szene-Insider und früherer Förderer wie die Radiomacher Ronald Galenza und Lutz Schramm vor die Kamera geholt hat, gelingt mit seinem „Amateurfilm“ ein überzeugender Rückblick auf eine Formation, die solitär nicht nur in der DDR-Rocklandschaft stand. Und die vielleicht deshalb Wirkungen weit über den Tag hinaus hatte: Der Rhythmus, der Rap und der zuweilen schräge Satzbau von Kraftklub-Hits wie „Songs für Liam“ oder „Zu jung“ erinnern bis heute an das Erbe der Chemnitzer Pioniere.

„AG Geige – Ein Amateurfilm“ wird am Samstagabend im halleschen PuschKino in der Kardinal-Albrecht-Straße 6 gezeigt. Zu Gast ist der Bandgründer Jan Kummer, der anschließend im benachbarten Klub Drushba auflegt.