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Abschied von Erik Neutsch Abschied von Erik Neutsch: Der polternde Atheist geht mit guten Worten und Gott

Von Andreas Montag 13.09.2013, 17:50
Das Zimmermannsorchester spielt einen Abschiedsgruß.
Das Zimmermannsorchester spielt einen Abschiedsgruß. Jens Schlüter Lizenz

Halle (Saale)/MZ - Zum Glück ist das Wetter prächtig gewesen am frühen Freitagnachmittag, so eine Trauerfeier ist ja für sich schon bedrückend genug. Und wenn dann auch noch der Hauptredner fehlt... Mit einer halben Stunde Verspätung rauscht Eberhard Panitz, Erik Neutschs gewichtiger Freund und Autorenkollege, endlich auf den Friedhof von Lettin bei Halle.

Dort soll der am 20. August nach jahrelanger, schwerer Krankheit gestorbene Neutsch nun seine letzte Ruhe finden. Um die 100 Personen zählt die Trauergemeinde, darunter der Schauspieler Peter Sodann, die Stadt Halle ist vertreten durch Judith Marquardt, die Beigeordnete für Kultur. Und viele Genossen und Weggefährten, wie Panitz sie dann begrüßt, hatten sich aufgemacht, Neutsch die Ehre zu erweisen. Voran Klaus Höpcke, der langjährige Leiter der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel und stellvertretende Kulturminister der DDR. Zuvor war der heute fast 80-Jährige als Journalist tätig, auch kurzzeitig bei der MZ-Vorgängerin „Freiheit“ in Halle.

Manche haben den alerten Höpcke später den Chefzensor genannt, Neutsch tat das sicher nicht. Er, mit Nachauflagen und Preisen verwöhnt, hätte auch keinen Grund dazu gehabt. Seine Bücher eckten zwar an, Panitz hat darüber in seiner Rede gesprochen, aber verboten wurden sie nicht. Verboten wurde allein der nach Neutschs Roman „Spur der Steine“ von Frank Beyer gedrehte, gleichnamige Film mit Manfred Krug in der Rolle des anarchischen Zimmermanns Balla, der sich mit Bürokratie und Scheinmoral anlegt.

„Gutmütig, sensibel, aber auch nachtragend“

In dieser Figur hat Neutsch sich selber gesehen, lebenslang. „Erik war ein besonderer Mensch“, sagt Konrad Potthoff eingangs der Trauerfeier, „ein Typ“. Der hallesche Autor hat Neutsch jahrzehntelang gekannt, wie die meisten der in Lettin Versammelten. Und er bescheinigt ihm nun, zum Abschied, Charakter besessen zu haben. Auch den Hang, die Parteiprominenz links überholen zu wollen, was Menschen in seiner Nähe zum Zittern brachte. Neutsch nicht.

Das wäre eine schöne Gelegenheit gewesen, Neutsch-Anekdoten zu erzählen. Es gibt viele davon. Aber das gehört sich bei einer Trauerfeier nicht. Immerhin beschreibt Potthoff den Verstorbenen noch als „temperamentvoll“ (er hätte getrost auch „cholerisch“ sagen können), „gutmütig, sensibel, aber auch nachtragend“.
Er habe ihn gut leiden mögen, fügt Potthoff hinzu, dann tritt Panitz ans Pult. Der ist auch schon 81, das Trauern hat immer eine gewisse Selbstbezüglichkeit - zumal, wenn die älteren Semester weitgehend unter sich bleiben.

Gebet für Neutsch am Urnengrab

Einen Abschied von seinen, Neutschs, Büchern gebe es nicht, sagt Panitz fast trotzig. Und dass der fünfte Band des auf sechs Bücher konzipierten Werkes „Der Friede im Osten“ gerade noch fertig geworden sei. „Bis zuletzt war er der, der er war“, rühmt er am „hartnäckigen Marxisten“ Neutsch, der „die überlebt geglaubte Welt nun wieder über uns gekommen“ sah. Hier schließt Panitz sich an. Er könne nicht leugnen, ein Kind der DDR zu sein. Auch er ist in Halle gewesen, als Lektor beim Mitteldeutschen Verlag. Da purzeln schon die Namen: Sarah und Rainer Kirsch, das Ehepaar Wolf, Czechowski...

Ob das immer so harmonisch zuging, im friedlichen Streiten, es steht dahin. In milder Spätsommersonne wirkt die Zeit ohnehin patiniert. Das Zimmermannsorchester „Die Ballas“ schmettert, Martin Weskott, der Bücherpfarrer aus Katlenburg, darf am Urnengrab ein Gebet für Neutsch sprechen. Da geht er hin, der polternde, liebevolle Atheist Neutsch: auch mit Gott.

Der Grabstein von Erik und Helga Neutsch in Halle-Lettin.
Der Grabstein von Erik und Helga Neutsch in Halle-Lettin.
Jens Schlüter Lizenz