11. September 11. September: Die Apokalypse versperrt sich der Deutung

Dessau/MZ. - Zunächst einmal New York. Der Berliner KulturtheoretikerDiedrich Diederichsen erinnerte wie einigeandere Weltenbummler in der Runde daran, dassdie Metropole in den 80er Jahren aufgrundihrer Verbrechensrate als äußerst gefährlichund gerade deshalb als verrucht und schickgalt. Der Besucher war quasi auf ein Abenteuereingestellt und wusste sich zu verhalten.Das Law-and-Order-Regime des BürgermeistersRudolf Giuliani habe in den 90er Jahren vondieser Gefährdung praktisch nichts mehr zurückgelassen.
In dieser Situation sei der Angriff wie eineVermischung aus Naturkatastrophe - sozusagender "Destruktivkraft des Ländlichen, wie Diederichsenden Konferenz-Untertitel ironisierte - undVerbrechen hereingebrochen. Offensichtlichsind die Unterschiede bedeutungsvoll, diesich in der Analyse anderer mit Terror assoziierterStädte auftun. An Sarajewo wurde gleich mehrfacherinnert: Auch dort brannten zwei Büro-Hochhäuser,von Bomben getroffen. In Belfast leben dieMenschen seit Jahren mit den Bombenanschlägender rivalisierenden Untergrundarmeen. Warumist aber Sarajewo aus der kollektiven Erinnerungso schnell verschwunden, fragte die BraunschweigerKunsthistorikerin Karin Wilhelm.
Der Berliner Architektursoziologe WernerSewing präzisierte in seiner Antwort gleichauch das Unwohlsein mit dem 11. September.Sarajewo, so Sewing, bestätigt den mitteleuropäischenMythos vom unabänderlichen Völkerhass aufdem Balkan. Belfast wiederum stehe für eineBarbarei, die der abendländischen Kultur innewohnt.Unter den serbischen Kriegsführern seien serbischeIntellektuelle vertreten gewesen, zu denenwesteuropäische Intellektuelle zum Teil langebestehende Beziehungen unterhalten hatten,wie es auch der Wiener Architekt und KünstlerMichael Zinganel bestätigte.
Der Terror am World Trade Center dagegen verleitedazu, den Schuldigen außerhalb des Westensanzusiedeln, glaubt Sewing: "Es waren dieanderen." Und das, obwohl bis heute kein Absenderzuverlässig ermittelt, dessen Absicht nichteindeutig zu benennen ist. "Wir sitzen hier,um Mythen zu decodieren", sagte Sewing undtraf damit auf die fortdauernde Schwierigkeit,den 11. September auch in seinem terroristischenWeltbild zu begreifen. Dies werde schon auchwegen der medialen Aufbereitung immer schwieriger,die die Wahrnehmung überlagert. Gibt es nochGroß-Erklärungen ("Super Code"), wenn es keineGroß-Differenzen mehr gibt? Terror passtezu Zeiten des Kalten Krieges unmittelbar odermittelbar in das Schema des Ost-West-Konflikts.Der "Zusammenprall der Kulturen" hat sichals Erklärungsmodell nicht ausreichend tauglicherwiesen. Bauhaus-Mitarbeiter Walter Priggefragte, wie die Wahl einer anchronistischenKriegsführung, nämlich des Kamikaze-Fliegers,zu deuten sei - geht es vielleicht doch umdie Apokalypse?
Karin Wilhelm führte den mittlerweile weitausholenden Diskursbogen noch einmal auf dieStadt zurück. Die Parallelgesellschaften multiethnischerStädte wie Marseille und Toulon zeigten längstdas Scheitern von Integration. "Das ist nichterst mit dem 11. September klar geworden."