Deutschrocker Kai Niemann 108 Fahrenheit,Wir sind das Volk,AfD

Sangerhausen - Als Kai Niemann das erste Mal den Spruch „Wir sind das Volk“ hörte, war er elf und in Begleitung seines Vaters auf einer Demo zur Wendezeit in Sangerhausen. Eine Erfahrung fürs Leben. Knapp 25 Jahre später hörte er, dass ein Lied namens „Wir sind das Volk“ bei einer NPD-Wahlkampfveranstaltung in Thüringen gespielt wurde – und das gefiel ihm überhaupt nicht.
Denn das Lied ist von ihm. Kai Niemann, der heute in Leipzig lebt, hat es 2009 zum 20-jährigen Mauerfall-Jubiläum geschrieben. Es sollte „eher so eine kritische Bestandsaufnahme“ sein und behandelte die vielfach abgerissene Verbindung zwischen Volk und Politikern.
Eine Dreiviertelmillion Klicks
„Ich habe damals versucht, den Song so universell wie möglich zu formulieren, bewusst auch etwas populistisch, um es provokativ zu machen“, sagt der Musiker. „Im Nachhinein bedauere ich das ein wenig, weil es doch einigen Interpretationsspielraum zuließ.“
Zitat Liedtext: „Wer wird jahrelang von Euch betrogen, nach Strich und Faden ausgezogen, wer soll dann auch noch wählen gehen, und darf dann in die Röhre sehen?“
Nicht nur bei der NPD, auch auf Pegida-Demos in Dresden war der Song zu hören, und natürlich im Internet. Jahrelang dümpelte Niemanns Video zu „Wir sind das Volk“ im Netz vor sich hin, bis es in den letzten anderthalb Jahren eine Dreiviertelmillion Klicks bekam.
Dass die Rechten es für sich entdeckten und vereinnahmten, hat Niemann total überrascht. „Ich dachte eher, dass es in die andere Richtung abgeht. Ich bin ja selbst eher linksgerichtet.“
Total missverstanden
Dass sein Song dreist umgedeutet wurde, merkte dessen Urheber an den vielen Kommentaren unter seinem Youtube-Video. „Lauter Parolen, wie sie halt auch auf der Straße geschrien werden: Volk steh auf!, Lügenpresse und so.“ Lobhudeleien, wonach sein Lied auf Platz eins gehöre, bereiteten dem Songschreiber keine Freude. Irgendwann wurde es ihm zu viel und er ließ das Video bei Youtube sperren.
Kai Niemann ist nicht der erste und schon gar nicht der bekannteste Musiker, der sich gegen die Vereinnahmung durch Rechtsradikale und -populisten wehrt. So verbot Helene Fischer 2015 der NPD das Abspielen ihres Hits „Atemlos“ auf Wahlkampfveranstaltungen.
Und jüngst ging Techno-DJ Paul van Dyk mit einer Unterlassungserklärung gegen die AfD vor, weil die seinen älteren Song „Wir sind wir“ regelmäßig bei den monatlichen AfD-Kundgebungen auf dem Erfurter Domplatz eingespielt hatte.
Kai Niemann hatte sogar mehrere Anfragen von der AfD bekommen, ob er auf ihren Veranstaltungen spielen würde. Um ein Statement dagegen zu setzen, ist er trotzig bei zwei Wahlkampfveranstaltungen der Partei Die Linke in Thüringen aufgetreten. Bei Legida-Gegendemos in Leipzig sowieso.
Hit sorgt für Diskussionen über Ost-West-Identität
Auf die Frage, in welchem Punkt ein Pegida-Anhänger den „Wir sind das Volk“-Text total missverstehe, antwortet Kai Niemann: „Es geht um die Grundeinstellung.“ Zwar gebe es genug Anlass für Politikerschelte und Kritik an der Verbandelung von Politik und Wirtschaft, in deren Folge Steuermilliarden verschwendet würden. Und natürlich frage er sich auch, warum das viele so hinnähmen. „Aber dem Pegida-Fan sage ich, dass die Ausländer und auch der allergrößte Teil der Flüchtlinge nicht für seine Probleme verantwortlich sind.“
Einnahmen als Spende für Flüchtlinge
Kai Niemann, der mit seiner Band selbst finanziell zu kämpfen hat, gibt zu, dass es für ihn „ärgerlich“ ist, dass sein Song von den Falschen gefeiert wird. „Du denkst: Anscheinend hat der Song Hitpotenzial, aber wenn man sieht, wofür er herhalten soll, kann man das nicht mit seinem Gewissen vereinbaren.“ Deshalb will er die Youtube-Einnahmen, die er auf 3.000 Euro schätzt, für Flüchtlinge spenden. „Um die Idioten zu ärgern, dass dafür ihr Geld draufgeht.“
Schon die Einnahmen aus einem Konzert im Dezember in Dresden, wo einige seiner Bandkollegen herstammen, kamen Flüchtlingen zugute. Die Band heißt übrigens 108 Fahrenheit, denn vom vorherigen Bandnamen Niemann verabschiedete sich Kai Niemann, um nicht mehr mit „Wir sind das Volk“ assoziiert zu werden. Überdies wollte er noch eine andere Altlast abwerfen. Niemann wurde stark mit dem Song „Im Osten“ verbunden, der 2001 ein großer Single-Hit war.
Das nette Lied hatte damals ernsthaft für Diskussionen über Ost-West-Identität gesorgt und dem Schöpfer sogar Drohungen eingebracht, weil er sang, dass die Mädchen im Osten hübscher seien und die Männer besser küssten. „Herrgott“, sagt Niemann, „manche nutzen selbst so was, um ihren privaten Frust abzulassen. Damals habe ich schon gelernt, dass man das ignorieren muss. Und wenn mir jetzt so ein Pegida-Arsch droht, nehme ich das auch nicht ernst.“
Seinen Song „Wir sind das Volk“ spielt er allerdings mit der neuen Band nicht mehr im Konzert. Der habe schließlich ein paar Jahre auf dem Buckel und seine Band ja nun auch neue Songs. Die - das Debütalbum erscheint in zwei Wochen - klingen nach seelensattem Folkrock, ein erstes Video steht bei Youtube. „Schweigend mit Dir stehen“ heißt der Song, den Kai Niemann mit der vielen noch aus den alten Hits bekannten rauchigen Stimme singt. Und nein, er meint garantiert kein Herumstehen auf einer Pegida-Demo.
Am 18. März erscheint das Debütalbum von 108 Fahrenheit mit dem Titel „Mein Herz“. (mz)
108 Fahrenheit live im Konzert:
2. April in der Schorre in Halle
