Wo Deutschland aufhört Wo Deutschland aufhört: Blanker Hans am Ellenbogen
Halle/MZ. - Erstaunt sehe ich, wie die Bahnstrecke im Navigationsgerät als Straße markiert ist. Wo gibt es das sonst in Deutschland? 35 Minuten wandert der Pfeil im Display mit mir über die Schiene des Hindenburgdamms. Ich habe einen Platz auf dem Oberdeck ergattert und genieße die prächtige Sicht aufs Weltnaturerbe Wattenmeer.
Der deutsche Nordpol liegt auf Sylt oben am Ellenbogen, einer bis zu 500 Meter schmalen Halbinsel. Dort, wo die Dünen besonders mächtig werden, hält Kirsten Asmussen in ihrem Mauthäuschen die Hand auf. Fünf Euro kostet die Weiterfahrt über die knapp drei Kilometer lange Straße des Ellenbogens. Die malade Betonpiste führt durch Privatland. 35 Erben des sogenannten List-Landes teilen sich das Areal. Sie wohnen in Hamburg ebenso wie in New York und natürlich hier auf Sylt. Zwei davon leben vorn auf der Spitze des Ellenbogens, direkt im Vogelschutzgebiet Uthörn, die werde ich noch treffen.
Jetzt aber höre ich Frau Asmussen erstmal klagen. Zu viele Touristen benehmen sich nicht so, wie sie sollen, fahren frühmorgens ohne zu zahlen rein, wo sie dann "durch unsere Dünen trampeln", obwohl klar geregelt sei, wo es lang geht.
Die Dünenlandschaft ist d i e Sylt-Attraktion. Hier kann man auch die einzigen Wanderdünen des Landes bestaunen, vom Wind in Bewegung gehalten. Der ist das größte Problem der Insel, der Blanke Hans vor allem, wie die starken Stürme heißen, die an der Westküste der schmalen Insel nagen und den Sand davon tragen.
Seit 1972 versucht man mit riesigem Aufwand im Westen Sand anzuspülen, um zu verhindern, dass die Insel eines Tages an ihren schmalsten Stellen vom Meer durchbrochen wird. Die Sandspülung ist nicht unumstritten, aber bislang die wirksamste Möglichkeit, den Landverlust zu bremsen. Wie groß die Gefahr und wie enorm der Aufwand dagegen sind, hatte ich mir zuvor im neu geschaffenen "Erlebniszentrum Naturgewalten" in List - dem nördlichsten Ort des Landes - angesehen, ein spektakulärer Bau in grellem Blau.
Als ich losfahren will an der Mautstelle, kommt ein mächtiger Pick up herangebraust. Drinnen sitzt Thomas Dietrichsen, einer der List-Land-Eigentümer. An der Frontscheibe seines Auto klebt ein Aufkleber: "Seehundjäger". Ich sehe ihn skeptisch an. Er sei einer von drei amtlich zugelassenen Jägern, die sich auf Sylt um das Wohl der Seehunde und Kegelrobben kümmern dürfen. Immer wieder werden Tiere an Land gespült oder Krankheiten bedrohen die Bestände. "Nur eins machen wir nicht - Seehunde jagen".
Zum nördlichsten Punkt? "An dem Glascontainer nach dem Westfeuer links rein", sagt der Jäger. Bevor ich die Container sehen kann, sehe ich natürlich das Westfeuer. Der rot-weiße Leuchtturm steht fast in einer Linie mit dem entfernteren Ostfeuer. Aber der im Westen hat die Nase um wenige Meter vorn - er ist Deutschlands nördlichstes Bauwerk. Dann stapfe ich 500 Meter nordwärts durch die Dünen, die hier bis zu 13 Meter hoch sind, und erreiche das Ende der Republik. Vor mir tut sich ein gut zweihundert Meter breiter Sandstrand auf, menschenleer, kilometerlang, baden verboten. Der Blanke Hans ruht an diesem Tag. Bläst er, wandert immer wieder Sand vom Weststrand an den Nordstrand - Sylts einziges Landstück, das wächst. Aber wo bitte schön ist nun der äußerste Zipfel? Nichts als schnurgerade Küste! Schade, liebe Sylt-Touristiker, hier fehlt ein Schild: Nördlichster Punkt Deutschlands. Da kommen drei Strandläufer aus Düsseldorf, die Familie Smidt. Gemeinsam beklagen wir den Mangel und beschließen nachzuhelfen. Ich baue mein Stativ an einer Stelle meiner Wahl auf. Das ragt wie ein trigonometrischer Punkt auf und ich verkünde: "Hier ist der Nordpol Deutschlands!"
Heiter verlassen wir den Ort der Landnahme, ich fahre weiter auf der Ellenbogen-Straße. Dünen links, Wattenmeer rechts, Gras, Sand. So einsam ist die Gegend, dass sie in diesem Frühjahr Star-Regisseur Roman Polanski genau in den Streifen passte. Irgendwie glich das hier der Insel Martha's Vineyard vor der Küste von Massachusetts. Dort hätte er gern gedreht, konnte aber nicht in die USA einreisen.
So verwandelte sich, erzählt mir Thomas Dietrichsen später, die einsame Straße in ein Stück Amerika, mit Strommasten, US-Briefkästen und vielem mehr. Tagelang sei Ausnahmezustand am Ellenbogen gewesen, als Polanski Aufnahmen für "The Ghost" drehte, der nächstes Jahr in die Kinos kommt. Dietrichsen hatte mit Polanski die Spielregeln für die Dreharbeiten im Naturschutzgebiet ausgehandelt.
Nichts ist übrig vom Dreh. Radfahrer und Wanderer bevölkern den letzten Zipfel vom Ellenbogen, den Uthörn. Die Dietrichsens haben dort drei reetgedeckte Häuser stehen. Hier wohnen sie mit ihren beiden Kindern. Hier betreiben sie elf Ferienwohnungen, "die nördlichsten der Republik", wie Cornelia Dietrichsen mir nicht ohne Stolz erzählt. Als ich mich verabschiede, kommt ihr Mann mit seinem Pick up angefahren. Er winkt mich heran und klappt eine Plane zur Seite. In einem Plastbehälter liegt eine kleine Kegelrobbe. Die habe er am Strand aufgelesen, sehr schwach, sehr krank. "Die muss ich erschießen, sie schafft es nicht mehr."
Von Uthörn fahre ich hinüber zu einem einsamen Haus in den Dünen, links daneben das Ostfeuer. Ich holpere über den Feldweg bis zum Backsteinbau, angemeldet bin ich nicht. Auf der Terrasse sitzt eine kleine Gesellschaft. Ich trage mein Anliegen vor, und sogleich bittet mich Hausherr Kaspar Kraemer nach drinnen. Er gießt mir Tee in blauweißes Porzellan ein, chinesischer Tee, wie er sagt, wohl ahnend, dass der Gast friesische Mischung erwartet hätte.
Aus Halle kommen Sie, stutzt der Architekt, als ich mich vorstelle. Da habe er doch vor Jahren mit seiner Firma das dortige Wirtschaftsforschungs-Institut saniert, freut er sich und setzt neuen Tee an. Er schwärmt von den Frankeschen Stiftungen, von Händel, den wunderbaren alten Straßen, will wissen, wie es der Stadt heute geht.
Der Architekt aus Köln besucht dieses Ferienhaus seit Jahrzehnten. Sein Vater hatte es 1951 gekauft, nach dem Krieg hatte die Tänzerin Gret Palucca zeitweise hier gewohnt. Nun zieht er sich mehrfach im Jahr mit seiner Familie in die Dünen zurück.
Eigentlich, so Kraemer, sei dies das nördlichste Haus Deutschlands. Aber da es nicht immer bewohnt werde, müsse er wohl den Ruhm den Uthörn-Häusern zugestehen, erzählt er schmunzelnd und hat Überraschendes zu berichten. "Wir leben hier seit Jahrzehnten ohne Strom im Haus." Bevor ich frage, erklärt er, wie das geht. "Wenn es dunkel wird, gibt es nur Kerzen und Petroleumlampen." Gekocht werde mit Gasflaschen, Gas sorgt auch für Kühlung. Kein Fernsehen, kein Radio. Ich schaue ungläubig. Es gehe alles prima, versichert Kraemer, wirklich, er genieße jeden Tag hier. Nur wenn die Handwerker mal anrücken, dann werfe er einen Generator an. Damit die arbeiten können im "nördlichsten" Haus Deutschlands.