Videostreaming-Dienst analysiert Nutzerverhalten Videostreaming-Dienst analysiert Nutzerverhalten: Warum Netflix alles über seine Kunden weiß
Wer den am Dienstag in Deutschland gestarteten Streamingdienst Netflix anschaltet, sieht auf dem Bildschirm vor sich die Reihen mit den abspielbereiten Titeln von Filmen und TV-Serien: „Breaking Bad“ etwa, oder die Politserie „House of Cards“. Auf die Auswahl, sagt Netflix-Chef Reed Hastings, kommt es an. „Der Nutzer soll die Videos sehen und sagen: ich will das sehen“, sagt Hastings. Und er ist überzeugt, dass er nur genug Daten analysieren muss, damit es so kommt.
Knapp die Hälfte der 900 Netflix-Mitarbeiter im kalifornischen Los Gatos mitten im Silicon Valley ist mit nichts anderem beschäftigt. Konzernchef Hastings ist eigentlich Chef eines Datenanalyseunternehmen. Mit Netflix ist auch das Big-Data-Zeitalter des Fernsehens nach Deutschland gekommen.
Der Zuschauer sendet zurück
Beim Videostreaming sendet nicht nur der Anbieter, sondern auch der Nutzer sendet seine Daten zurück – und niemand setzt so sehr auf ihre Analyse wie Netflix. Schon als Netflix noch DVDs versendete, begann die Firma, das Sehverhalten zu analysieren. Inzwischen trackt sie nicht nur, welche Filme oder TV-Serien der Nutzer zu welcher Zeit auf welchen Geräten ansieht, in welchen Szenen er abbricht, wonach er sucht und was er bewertet, sondern selbst, wie er sich durch die Filmtitel scrollt.
Hastings betont, dass man die Daten nicht an Dritte weiter gebe oder an die Werbeindustrie verkaufe. Netflix ist ja werbefrei. Die Überwachung abschalten kann man allerdings nicht. „Dann würde der Dienst nicht mehr funktionieren“, sagt Hastings.
Das Angebot von Netflix ist schließlich begrenzt, wie viele Filme der US-Konzern auf der Plattform hat, hat das Unternehmen bisher nicht bekanntgegeben. Würde der Kunde zu suchen beginnen, sagt Netflix-Inhaltschef Ted Sarandos, würde er schnell feststellen, dass es zahlreiche Titel gar nicht gibt. Deshalb soll der Kunde nicht suchen. Netflix will ihm mit seinen Empfehlungsmechanismen ein Angebot machen, das er gar nicht ablehnen kann. Damit das gelingt, hat Konzernchef Hastings schon vor acht Jahren beschlossen, alle Filme auf der Plattform in ihre Bestandteile zu zerlegen.
Hastings hat dazu eine eigene Abteilung geschaffen, in der mehr als vierzig Experten Filme und TV-Serien kategorisieren, strikt nach den Vorgaben eines 36-seitigen Handbuchs. Ihre Aufgabe: Den Film in Datenpunkte zu verwandeln. Sie stufen die Stringenz der Handlung ebenso ein wie den Grad der Brutalität oder die moralische Haltung der Hauptfiguren und bewerten, wie explizit die Darstellung von Sex ist, ob es eine starke weibliche Hauptfigur gibt und ein Happy-End. Den Filmen werden so Attribute in über einhundert Dimensionen zugeordnet, sagt Hastings. „Mikrotags“ werden sie bei Netflix genannt.
Anhand der Klassifizierung des Endes können sie etwa berechnen, ob ein Film als Feel-Good-Movie, als Wohlfühlfilm, durchgeht. So lassen sich Cluster erstellen, sagt Hastings. Subgenres, wie sie nur Netflix kennt, anhand derer weitere Filme empfohlen werden können. Dazu gehört etwa die Kategorie „Von der Kritik gelobte schräge Independent-Komödien“ oder „Bildgewaltige brutale Action und Abenteuer mit einer starken weiblichen Hauptfigur.“ Exakt 76 897 solcher Subgenres hat das US-Magazin The Atlantic mit Hilfe einer automatisierten Abfrage gezählt.
Entscheidend ist, dass Netflix’ Datenwissenschaftler auf diese Weise nicht nur herausfinden können, dass mehrere Nutzer die gleichen Filme mögen, sondern auch Hypothesen bilden können, warum das so ist. „Ob ein Nutzer Surffilme wegen des Wellenreitens mag oder eher wegen der Frauen im Bikini“, sagt der für den Empfehlungsmechanismus zuständige Netflix-Manager Neil Hunt und grinst.
Versteht Netflix die Motivation, wird der Vorschlag noch präziser. Welche Actionfilme einem Nutzer als Empfehlung angezeigt werden, kann etwa davon abhängen, welchen Grad der Brutalität Netflix als seine Präferenz erkannt hat. Netflix nutzt diese Analysekraft aber auch noch auf einem anderen Gebiet: der Erstellung eigener Fernsehserien.
Es ist kein Zufall, dass die von Netflix produzierte Politserie „House of Cards“ mit Kevin Spacey die meistgestreamte TV-Serie überhaupt ist. Aufgrund der Nutzerdaten wusste Netflix schon vorher, dass die Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg hoch war, sagt Inhaltschef Sarandos. Die Daten besagten, dass die Zuschauer, die die britische BBC-Originalserie „House of Cards“ sahen, auch Kevin Spacey gerne sahen und Filme von Regisseur David Fincher („The Social Network“).
Für Fincher und Spacey war die Datenanalyse ein Segen. Zwar waren auch zahlreiche andere US-amerikanische TV-Sender interessiert, erzählte Kevin Spacey bei einem Filmfestival in Edinburgh. „Doch alle wollten zunächst nur eine Pilotfolge produzieren.“
Das Problem: „House auf Cards“ war darauf angelegt, mit langem Atem erzählt zu werden. Die komplexeren Charaktere sollten über mehrere Folgen hinweg entwickelt werden, ihre wahre Persönlichkeit langsam enthüllen. „Bei einem Pilotfilm hätten wir alle Figuren in den ersten 45 Minuten etablieren müssen.“ „House of Cards“ hätte einem ganz anderen Spannungsbogen folgen müssen – wäre da nicht Netflix gewesen.
Netflix verlangte keinen Piloten, sondern bestellte sofort zwei ganze Staffeln, ohne eine einzige Szene vorher getestet zu haben. Sie hatten die Daten ja schon.
Die Frage ist, was Netflix in Zukunft mit den Daten anstellen wird. Reed Hastings ist etwa aufgefallen, dass die Anfangsszene von „House of Cards“ ein Problem hat. Als die Hauptfigur, der Politiker Frank Underwood, in den ersten Sekunden der Serie mit seinen bloßen Händen den angefahrenen Hund der Nachbarn erwürgt, stiegen etwa zehn Prozent aus, sagt Hastings. „Eine massive Zahl.“
Verändert, betont Hastings, wurde dennoch nichts. Für Regisseur Fincher war die Szene elementar, um die Hauptfigur einzuführen, sagt Hastings. Das habe gezählt. Inhaltschef Sarandos sagt: „Bei einem normalen TV-Sender wäre die Szene mit hoher Wahrscheinlichkeit herausgeflogen, wenn das Testpublikum reagiert hätte.“ Aber bei Netflix, sagt Sarandos, habe man ja noch mehr Daten. „Wir haben auch gesehen, dass viele abends weitergeschaut haben– vermutlich, nachdem sie die Kinder ins Bett gebracht haben.“