Verkehrswissenschaftler zu Schnelltrassen Verkehrswissenschaftler zu ICE-Schnelltrassen: "Das ist eine Bolzstrecke"

Halle (Saale) - Fernverkehr ist Daseinsvorsorge, sagt Prof. Heiner Monheim, einer der renommiertesten Verkehrsforscher Deutschlands. Alexander Schierholz sprach mit ihm über die Schnellfahrtrasse Berlin-München und die Folgen für die Orte, in denen der ICE nicht mehr Halt macht.
Herr Monheim, die Deutsche Bahn schafft mit viel Geld schnelle Verbindungen zwischen großen Städten. Dafür verlieren mittlere und kleinere Städte den ICE-Anschluss. Ist das der richtige Weg?
Heiner Monheim: Nein. Die Bahn muss viel stärker in Netzzusammenhängen denken. Ihr oberstes Ziel muss es sein, Autoverkehr auf die Schiene zu holen. Das erreicht man nicht, indem man wie bei den Schnellfahrstrecken einzelne Korridore stärkt.
Die neue Trasse durch den Thüringer Wald verbessert im wesentlichen die Verbindung zwischen Berlin und München, aber viel mehr nicht. Viele Teilstrecken werden sogar schlechter bedient als vorher, eben weil viele Orte jetzt buchstäblich auf der Strecke bleiben. Stattdessen dominieren die Metropolen.
Aber die Zahlen scheinen der Bahn Recht zu geben. In den ersten vier Wochen der neuen Strecke hat sich die Zahl der Passagiere zwischen Berlin und München mehr als verdoppelt.
Monheim: Das ist zunächst ein Effekt des in der Menge verstärkten Angebotes. Wer den Takt verdichtet, gewinnt immer Fahrgäste dazu. Sodann ist es ein Bündelungseffekt, weil ja einige früher parallel verlaufende Verbindungen jetzt nicht mehr im Fernverkehr bedient werden. Wie viel echter Neuverkehr durch Umsteiger vom Auto auf die Bahn erreicht wurde, weiß man noch nicht. Und im Güterverkehr bewirkt die neue Trasse gar nichts.
Wie wichtig ist ein Fernverkehrsanschluss für mittlere und kleinere Städte, wie etwa Naumburg?
Monheim: Überlebenswichtig. Ich habe gemeinsam mit Kollegen aus der Bundesraumordnung schon in den 1970er Jahren in einer Studie nachgewiesen, dass der Wegfall des Fernverkehrs Einbrüche bei den Fahrgastzahlen nach sich zieht und die Attraktivität eines Standortes verschlechtert.
Das lässt sich ablesen an Kriterien wie Neuansiedlungen von Unternehmen oder Investitionsquoten. Auch Fernverkehr ist Daseinsvorsorge. Er muss wie eine Autobahn zur Standard-Infrastruktur für das ganze Land und alle Ober- und Mittelzentren zählen.
Lassen sich Ergebnisse einer 40 Jahre alten Studie auf heutige Verhältnisse übertragen?
Monheim: Die genannten Folgen fallen heute sogar noch dramatischer aus, weil das Schienennetz mittlerweile drastisch ausgedünnt worden ist. Allein seit Anfang der 90er Jahre sind in Deutschland mehr als 7 000 Kilometer Bahnstrecken stillgelegt worden.
Aber ist ein guter Anschluss zum nächsten ICE-Knoten im Halbstundentakt nicht besser als ein direkter ICE, der nur alle zwei Stunden fährt?
Monheim: Zunächst: Ein Zweistundentakt ist ein Witz. In der Schweiz wird jedes Mittel- und Oberzentrum im Halbstundentakt an den Fernverkehr angebunden. Wir hatten ja auch schon mal bessere Fernverkehrsanbindungen, als es noch den Interregio gab.
Für die innere Erschließung einer Region ist natürlich der Nahverkehr am wichtigsten, also für Berufspendler, Einkäufer, Touristen. Aber für Unternehmer oder andere Entscheider, die über die Attraktivität eines Standortes mitbestimmen, ist die Fernverkehrserreichbarkeit entscheidend. Diesem Publikum muss man schnelle komfortable Verbindungen anbieten. Da ist ein alleiniges Regionalzugangebot unzureichend.
Die Bundesländer, die für den Schienennahverkehr zuständig sind, versuchen zum Teil, gestrichene Fernzüge durch Regionalzüge zu ersetzen. Gerade in Sachsen-Anhalt hat sich da viel getan. Aber kann das überhaupt gelingen?
Monheim: Nein, das funktioniert nicht. Das führt dazu, dass Regionalzüge zum Teil sehr lange Strecken zurücklegen und aufgrund dessen viel anfälliger für Verspätungen sind. Die Systeme sind zu unterschiedlich. Nahverkehr soll eine Region erschließen, auf kürzeren Routen. Im Fernverkehr müssen Sie mehr Service bieten, Sie brauchen mehr Platz in der 1. Klasse, weil das Publikum ein anderes ist. Sie brauchen Bistro, Arbeitstische, Reservierbarkeit. Und Sitzkomfort für lange Strecken.
Was muss die Bahn ändern?
Monheim: Die Politik muss etwas ändern. Wir müssen Hunderte von stillgelegten Verbindungen reaktivieren, damit wir viele Orte überhaupt wieder an das Schienennetz anschließen können. Wir brauchen Erreichbarkeits-Standards, in denen definiert wird, wie häufig zum Beispiel Mittelstädte mit Fernzügen bedient werden, wie in der Schweiz. Das könnte in einem Fernbahngesetz geregelt werden. Heute ist es so, dass die Bahn entscheidet, ob eine Verbindung sich wirtschaftlich lohnt.
Es ist absurd, wenn viele Regionen zwar mit zwei bis drei Autobahnen bedient werden, aber ohne Fernbahnanschluss sind. Man darf nicht nur die Metropolen mit ICE und IC bedienen, sondern alle Regionen. Und darunter brauchen alle Regionen attraktive S-Bahn- und Regionalbahnsysteme. Wir brauchen schnellstmöglich eine komplette Elektrifizierung des Bahnnetzes. Und natürlich einen Deutschlandtakt, der Grundlage aller Ausbaumaßnahmen sein muss. Der Interregio muss zurückkommen, als Fernzug, der auch in kleineren Städten regelmäßig hält. Für all das muss der Bund als Eigentümer des Netzes viel mehr Geld rüberschaufeln.
Ist die Bahn zu sehr gewinn- und zu wenig kundenorientiert?
Monheim: Eindeutig ja. Wobei: Wenn sich die Bahn wirklich am Gewinn orientieren würde, hätte sie nicht so in den Bau von Schnellfahrstrecken investiert wie sie das getan hat. Unternehmerisch sind das keine sinnvollen Investitionen. Die Trasse Berlin-München hat zehn Milliarden Euro gekostet. Wenn Sie diese Kosten auf den Fahrgast umlegen würden, müsste eine Fahrkarte 600 Euro kosten. Die Strecke ist also hoch subventioniert.
Die Bahn muss mit ihren Geschwindigkeitsstandards Maß halten, Tempo 160 bis 200 im ganzen Netz garantieren und endlich die rund 3.000 Langsamfahrstellen, auf denen teilweise mit Tempo 30 gebummelt wird, abschaffen. Das ist viel wichtiger, als mal auf einer Bolzstrecke Tempo 300 zu fahren. Zumal bei diesem Tempo der Energiebedarf viel höher und der Verschleiß viel größer ist. Und noch wichtiger ist der Ausbau der Knoten, damit man beim Umsteigen nicht so viel Zeit verliert. Also weg von den Großprojekten wie das Milliardenloch Stuttgart 21, hin zu einer Flächenbahn.
Aber die Bahn folgt mit dem Bau doch nur den Vorgaben der Politik, die solche Projekte will.
Monheim: Nein, alle Neubaustrecken gehen zunächst auf interne Leitbilder des Bahnmanagements zurück. Dass dann die Politik im „Vereinigungstaumel“ mit den Verkehrsprojekten Deutsche Einheit symbolträchtige Zeichen setzen wollte und dafür viel Bundesgeld bereitgestellt hat, ist psychologisch verständlich. Wenn wir eine ehrliche und systematische Debatte führen würden, käme man auch in der Politik schnell darauf, dass die bisherigen Großprojekte unwirtschaftlich sind. Und würde auf weitere Großprojekte der Hochgeschwindigkeit verzichten.
Fahren im Takt
Langfristig soll der „Deutschland-Takt“ Bahnfahren attraktiver machen. Die Idee: Alle Züge, egal im Fern- oder im Nahverkehr, fahren im regelmäßigen Takt und treffen sich an Knotenbahnhöfen, an denen es kurze Umsteigezeiten gibt. Die Umsetzung gilt aber als schwierig. Bund, Länder und alle Zugbetreiber müssen sich abstimmen. Eine erste Stufe soll deshalb erst 2030 starten. (mz)