1. MZ.de
  2. >
  3. Deutschland & Welt
  4. >
  5. Wirtschaft
  6. >
  7. Tag der Frauengesundheit: Tag der Frauengesundheit: Medizin ist nicht geschlechtsneutral

Tag der Frauengesundheit Tag der Frauengesundheit: Medizin ist nicht geschlechtsneutral

Von Stefan Sauer 28.05.2018, 06:34
Von systematischer Über-, Unter- und Fehlversorgung sind Millionen Frauen in Deutschland betroffen.
Von systematischer Über-, Unter- und Fehlversorgung sind Millionen Frauen in Deutschland betroffen. dpa-Zentralbild

Berlin - Medizin ist nicht geschlechtsneutral. Ob Diagnosen, Verordnungen, Therapien oder Operationen: Das Geschlecht der Erkrankten macht einen Unterschied. Dass etwa Herzinfarkte traditionell Männern zugeschrieben werden, führte über Jahrzehnte hinweg dazu, dass bei Frauen der Infarkt  oft nicht erkannt wurde.  Dies ist das wohl bekannteste Beispiel für medizinische Fehlleistungen, die  geschlechtsbezogenen Vorurteilen geschuldet sind. Aber es ist längst nicht das einzige. Frauen werden nicht nur unterversorgt - wie beim Infarkt - ihnen werden auch Erkrankungen zugeschrieben, die dann mit unnötigen, oft schädlichen Arzneimitteln und Operationen „therapiert“ werden. Von systematischer Über-, Unter- und Fehlversorgung sind Millionen Frauen in Deutschland betroffen. Und dies nicht nur am 28. Mai, dem Internationalen Tag der Frauengesundheit.

Schieflage in der medizinischen Forschung

Schon die medizinische Forschung weist eine beträchtliche geschlechtsbezogene Schieflage auf. Eigentlich sollten Arzneimittelstudien an Testpersonen durchgeführt werden, die die Zielgruppe des Präparates möglichst genau abbilden. Genau dies geschieht aber häufig nicht. „Die Arzneimittelforschung ist stark an Männern ausgerichtet. Das liegt vor allem daran, dass Frauen in klinischen Anwendungsstudien stark unterrepräsentiert sind“, sagt die stellvertretende Verwaltungsratsvorsitzende der Barmer Ersatzkasse Ulrike Hauffe. Nur rund ein Drittel der auswertbaren Ergebnisse stamme von Frauen, etwa weil Schwangere von vielen Versuchen ausgeschlossen blieben.

Es bedürfte also eines gewissen Aufwandes, um einen angemessenen Frauenanteil für die klinischen Versuche sicher zu stellen. Den aber scheuten viele Pharmafirmen, da sie die Kosten für ihre Studien möglichst gering halten wollten, weiß Hauffe. In der Folge sei die Zahl der Teilnehmerinnen oftmals zu gering, um wissenschaftlich aussagekräftige Erkenntnisse  zu gewinnen. Welche Nebenwirkungen hat Medikament X auf Frauen mit Diabetes vom Typ II?  Ist das Präparat Y auch für 13- bis 18-Jährige geeignet oder nur für Frauen über 50?  Solche Fragen bleiben im Zweifel unbeantwortet. „Auf Basis herkömmlicher Herstellerstudien können wir daher nicht sicher sein, ob die pharmakologischen Substanzen sowie ihre Dosierung für Frauen geeignet und angemessen sind“, sagt Hauffe.

Hartnäckige Vorurteile über vermeintlich typisch weibliche Eigenschaften

Zur mangelhaften Studienlage gesellen sich hartnäckige Vorurteile über vermeintlich typisch weibliche Eigenschaften. Namhafte Wissenschaftler  wie der Bremer Arzneimittelexperte Gerd Glaeske verweisen in diesem Zusammenhang vor allem auf psychische Erkrankungen. Seit Jahren gebe es in der Arzneimittelversorgung den auffälligen Befund, dass etwa Schlafmittel, Tranquilizer, Neuroleptika und vor allem Antidepressiva Frauen nahezu doppelt so häufig Frauen verschrieben würden wie  Männern, so Glaeske. Die Folgen sind gravierend: „Insbesondere bei den Schlafmitteln und Beruhigungsmitteln kann sich nach sechs bis acht Wochen eine Abhängigkeit einstellen, von der Frauen nicht mehr ohne fremde Hilfe loskommen.“  Daraus wiederum ergibt sich einen weiteres „typisch weibliches“ Gesundheitsproblem: Von  Medikamentenabhängigkeit sind in Deutschland etwa 1,5 Millionen Menschen betroffen, der Frauenanteil liegt bei zwei Dritteln.

Dabei sei schon die Diagnose „psychische Erkrankung“ in vielen Fällen zweifelhaft und fuße auf dem überkommenen Bild von der wenig belastbaren, seelisch labilen Weiblichkeit, kritisiert Hauffe , die sich schon während ihrer 23-jährigen Tätigkeit als Frauenbeauftragte der Bremer Landesregierung mit dem Thema Medizinische Versorgung für Frauen beschäftigt hat: „Der Begriff Hysterie ist nicht zufällig vom altgriechischen Hysteria abgeleitet, der eigentlich Gebärmutter bedeutet. Noch im späten 19. Jahrhundert lautete die Lehrmeinung, die Gebärmutter wandere durch den Frauenkörper und gelange schließlich zum Hirn, wo sie Hysterie auslöse.“ Dass das Unsinn sei, wisse man heute, doch das Bild wirke nach: „Wenn heute eine Alleinerziehende aufgrund der Doppelbelastung unter Erschöpfungszuständen leidet, werde schnell eine Depression diagnostiziert, die dann mit stimmungsaufhellenden Psychopharmaka behandelt wird.“ Auch in Pflegeheimen würden Unmengen solcher Medikamente verabreicht, um die in der großen Mehrzahl weiblichen Bewohner ruhig zu stellen. „Die Gefahren sind unübersehbar, Stürze wegen Einschränkung der Konzentration und der Gangsicherheit treten immer wieder auf“, warnt Glaeske.

„Lebenslauf ist geprägt von angeblich hohen Risiken“

Letztlich sei die deutsche Gesundheitsversorgung darauf ausgerichtet, aus Frauen behandlungsbedürftige Patientinnen zu machen, analysiert Hauffe: „Ihr Lebenslauf ist geprägt von angeblich hohen Risiken, allen voran die Schwangerschaft, der mit allerlei fahndenden Untersuchungen und einer nicht zu rechtfertigenden hohen Zahl an Kaiserschnitten begegnet wird.“ Auch die Wechseljahre würden zur Krankheit erklärt und mit künstlichen Hormonen behandelt. Dabei gehe es lediglich um eine Phase der Hormonumstellung, die man auch ohne Medikamente bewältigen könne. Letztlich sei der gesamte Lebensweg von Frauen in das medizinische Versorgungssystem eingepasst, von der Pubertät über die Mutterschaft bis hin zu den Wechseljahren. In der Folge würden Frauen mit unnötigen, nicht selten schädlichen Präparaten und Eingriffen traktiert, woran Pharmahersteller, Apotheker und Ärzte prächtig verdienten. „Wir nennen das Medikalisierung und Pathologisierung“, sagt Hauffe.

Ein weiteres Beispiel sind die Folgen sexueller Gewalt. Davon sind Mädchen und Frauen etwa  viermal so häufig betroffen wie Jungen und Männer. Folgerichtig leiden auch viermal mehr Frauen als Männer  unter den gravierenden seelischen Problemen in Folge des Missbrauchs. „Aber das ist nicht Ausdruck ihres Frau-Seins, sondern der sexuellen Gewalt“, betont die Gesundheitsexpertin.

Die Frage, welche gesundheitlichen Folgeschäden und gesellschaftlichen Kosten sich aus der systematischen Fehlversorgung von Frauen im Detail ergeben, ist schlechterdings nicht zu beantworten. Es wird nämlich kaum darüber geforscht. Schließlich müssten Folgewirkungen systematisch untersucht werden, das muss man wollen und bezahlen. „Die Hersteller haben daran kein Interesse. Und öffentlich geförderte Arzneimittelwirkungsforschung gibt es kaum. Das gilt erst recht für Untersuchungen unter besonderer Berücksichtigung der Gesundheit von Frauen“, kritisiert Hauffe.

Der Fortschritt als Schnecke - fundamentaler Kurswechsel gefordert

Der Fortschritt erweist sich allerdings wieder einmal als Schnecke. Zwar ist die erwähnte Infarktproblematik, die von der Berliner Kardiologin Vera Regitz-Zagrosek bereits 2012 thematisiert worden war, mittlerweile erkannt. Die Zahl der Fehldiagnosen ging zurück. An den  Defiziten in der Forschung, am  meist unreflektiert übernommenen Bild vom behandlungsbedürftigen Wesen Frau aber hat sich nicht viel geändert.

Vor diesem Hintergrund plädiert Hauffe für einen fundamentalen Kurswechsel. Eine bedarfsgerechte Versorgung müsse sich viel mehr als bisher auf die Fähigkeiten konzentrieren, über die die Einzelne angesichts gesundheitlicher Einschränkungen verfüge: „Die Botschaft darf nicht länger lauten: Du als Frau musst nur unseren medizinischen Empfehlungen folgen und brav deine Medizin nehmen, dann wird das schon. Sie muss lauten: Du kannst schwanger sein, gebären und stillen, und du schafft auch die Wechseljahre, meist ohne Pharmazie und Operationen.“ Die Barmer habe ihre Infobroschüren entsprechend umgestaltet.

Zudem sei eine öffentlich geförderte Arzneimittelforschung notwendig, die frauenspezifische Aspekte ausdrücklich berücksichtigt, ebenso wie eine geschlechtsdifferenzierte Versorgung. Damit stiege nicht nur die Qualität, zugleich könnten auch erhebliche Kosten vermieden werden.