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MZ-Gespräch mit Prof. Klaus Griesar MZ-Gespräch mit Prof. Klaus Griesar: "Chemie muss sich wandeln"

22.09.2017, 08:00
Christian Saffert, Chemielaborant, überprüft am „Multi-Kanal-Testsystem“ die Speicherkapazitäten verschiedener Lithium-Ionen-Testbatterien.
Christian Saffert, Chemielaborant, überprüft am „Multi-Kanal-Testsystem“ die Speicherkapazitäten verschiedener Lithium-Ionen-Testbatterien. dpa

Bitterfeld-Wolfen - Die Chemie ist eine der industriellen Säulen Sachsen-Anhalts. Die Geschäfte laufen gut, doch größere Investitionen werden seltener.

Auf Einladung der „Gesellschaft Deutscher Chemiker“ wird Prof. Klaus Griesar, Vorstand der „Vereinigung Chemie und Wirtschaft“ am 28. September in Bitterfeld-Wolfen über den kommenden Wandel in der Chemie sprechen. Vorab sprach MZ-Redakteur Steffen Höhne mit ihm.

Herr Griesar, warum soll ein junger Mensch heute eine Ausbildung oder ein Studium in der Chemie aufnehmen?
Klaus Griesar: Zum ersten wird die Chemie künftig noch mehr gefragt sein - wenn auch in anderer Form. Zum zweiten werden in der Chemie Produkte hergestellt, die den Menschen das Leben erleichtern. Und nicht zuletzt ist ein Studium der Chemie spannend und anregend: Kreativität, praktisches Geschick und logisches Denken sind gleichermaßen gefragt. Es ist daher sowohl nützlich als auch erfüllend, als Chemikerin oder Chemiker - sei es in der Wissenschaft oder in der Industrie zu forschen.

Chemie als Zulieferer mit anderen Branchen verwoben und stark nachgefragt

Warum wird die Chemie künftig noch mehr gefragt sein?
Klaus Griesar: Wie keine andere Industrie ist die Chemie als Zulieferer mit anderen Branchen verwoben. Wie beim Sport haben sich hierbei einzelne Disziplinen herausgebildet, die wir heute als Grundstoff-, Spezial- und Feinchemie bezeichnen, in denen hochspezialisierte Firmen arbeiten. Es gibt heute etwa 80.000 Produktlinien und die Vielfalt nimmt weiter zu. Das führt am Ende zu Wachstum - und zwar weltweit.

Ist die chemische Industrie eine globale Branche?
Klaus Griesar:
Ja und nein. Die Chemie in Deutschland ist, in Bezug auf ihre Lieferbeziehungen zu Kunden eine der am globalsten vernetzten Branchen hierzulande - noch vor der Automobilindustrie. Das rührt daher, dass es heute kein Produkt mehr gibt, das nicht mit der Chemie in Berührung kommt. Im Produktionsprozess ist die globale Vernetzung in der Chemie im Vergleich zu anderen Branchen jedoch auffallend gering. Zur Vermeidung hoher Logistikkosten werden - insbesondere in der Grundstoffchemie - häufig geschlossene regionale Produktionsprozesse aufgebaut.

Etwa ein Drittel aller Chemieprodukte wird inzwischen in China hergestellt - dabei waren es 1990 erst drei Prozent. Hängt uns China ab?
Klaus Griesar: Ich würde lieber von einer Normalisierung sprechen. Vor der Industrialisierung wurde um 1830 in China etwa ein Drittel des Weltbruttosozialproduktes erwirtschaftet. Gerade Massenprodukte wie Kunststoff oder Gummi werden heutzutage in der Volksrepublik produziert. Das macht sowohl ökonomisch als auch - unter dem Teilaspekt Transportkosten - ökologisch Sinn. Es findet ein Aufholprozess statt, der deutschen Firmen jedoch mehr nützt als schadet. Denn es handelt sich hierbei nicht um ein Nullsummenspiel, bei dem der eine nur dann gewinnt, wenn der andere verliert. Das zeigt ein Blick auf die Außenhandelsbilanzen: China ist weiterhin Netto-Importeur von Chemikalien, Deutschland ist weiterhin Export-Weltmeister.

Auch im Mittleren Osten wie beispielsweise in Saudi-Arabien entstehen riesige Chemie-Komplexe, die Europa mit billigen Materialien überschwemmen könnten. Sorgt Sie das nicht?
Klaus Griesar: Die dortigen Standorte haben den Vorteil, dass Energieressourcen und Rohstoffe wie Öl und Gas niedrige Preise besitzen. Doch in der Chemie sind zunehmend kundenspezifische Produkte gefragt, die ein hohes Know-how erfordern. Ich bezweifle, dass es Staaten wie Saudi-Arabien besser als Deutschland gelingt, Spitzenforscher und Ingenieure auszubilden, anzuwerben und auf Dauer im Land zu halten, die solche Innovationen entwickeln.

Wie sehen Sie die mitteldeutschen Standorte mit ihren Stoffverbund für den Wettbewerb gerüstet?
Klaus Griesar: Stoffverbünde, bei denen mehrere Firmen sich wichtige Rohstoffe zuliefern, sind ein entscheidender Wettbewerbsvorteil in der Grundstoffchemie. Es wäre fahrlässig, solche Verbünde aufzugeben, wenn ein Partner einmal in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerät. In sich geschlossene Wertschöpfungsketten sind wichtig für diese Standorte. Doch künftig wird es in der europäischen Chemiebranche zunehmend weniger darauf ankommen, nicht nur bestimmte Grundstoffchemikalien in Kostenführerschaft zu produzieren. Die Ära der Neuentwicklung von Blockbustern wie PVC, Persil und Penicillin ist weitgehend vorbei. Innovationen in der Chemie spielen sich künftig mehr und mehr auf der Ebene der Systeme ab.

Was meinen Sie mit „Systemen“?
Klaus Griesar: Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Die Lithium-Ionen-Batterie ist aktuell für E-Autos in aller Munde. Diese Batterie kann nicht verbessert werden, indem alleine nur das Material der Anode oder Kathode optimiert wird. Die einzelnen Komponenten können nur im System, also in ihrem Zusammenspiel, verbessert werden. Dazu müssen Chemie-Unternehmen zusätzliche Kompetenzen erwerben. Dies geht so weit, dass man eng mit Batterie-Herstellern zusammenarbeitet oder Batterien sogar selbst entwickelt.

Konzerne wie BASF und Bayer können sich das vielleicht finanziell leisten. Doch können da mittelständische Firmen mithalten?
Klaus Griesar: Ja. Es geht ja nicht darum, dass Chemieunternehmen selbst Batterien oder Flachbildschirme für Fernseher produzieren sollten. Es geht vielmehr darum, Lösungen als Prototyp oder im Labormaßstab zu entwickeln, die nach ihrer erfolgreichen Entwicklung dann an die entsprechenden industriellen Produzenten verkauft werden. Dazu sehe ich auch viele Mittelständler - gerade auch in der Zusammenarbeit über Branchengrenzen hinweg - in der Lage. (mz)